Kolumne Klatsch: Wer will mich?

In zwei Wochen trampe ich los nach Polen. Es ist mein erster Urlaub per Anhalter. Ich bin schon ganz aufgeregt.

Der Daumen ist der unwichtigste Finger. Man kann mit ihm nicht zeigen, schlecht einen Ring daran tragen und nicht mal in der Nase bohren. Auch beim Sex ist der Daumen zu fast nix zu gebrauchen. Nur in die Luft halten kann man ihn zum Zeichen großer Anerkennung (George Bush). Oder um mitgenommen zu werden als Anhalter. "Ich reise mit dem Daumen", sagte man früher, als es noch eine echte Jugend gab, die Abenteuer liebte. Was sich heute Jugend nennt, sind nichts als Hirnpensionäre, eine Flatrate-Generation, die sich in ihrem Rentnerdasein mit 18 Jahren schon sehr wohl fühlt. Ein deutscher Jugendlicher käme doch nicht mehr auf die Idee, per Autostopp in den Urlaub zu fahren. Oder mit einer rostigen Ente nach Teheran oder mit dem Motorrad nach Cotonou. Wir waren eben noch Helden.

Auf längeren Strecken im Auto klappere ich immer die Autobahnraststätten ab, ob nicht irgendwo ein Tramper steht. Ich habe gerne Unterhaltung im Wagen. Doch seit Jahren werden sie immer weniger, die mit Rucksack und Pappdeckel am Wegesrand stehen, und finde ich endlich mal einen, dann spricht er Litauisch, Polnisch oder Ukrainisch. Nur der Osten trampt noch, weil es billig ist und weil das Schamgefühl, mit 18 noch kein eigenes Auto zu besitzen, dort noch nicht ausgeprägt ist.

Ich selbst bin in meinem Leben noch nie getrampt. Ich meine richtig getrampt. Nicht von Kleinengstingen nach Großengstingen, sondern so richtig mit Rucksack und Pappschild. Weil ich immer ein Auto besaß, war ich bislang nie auf die Idee gekommen. Oder sagen wir so: Ich hatte es einfach nicht nötig. Aber bald ist es so weit: In zwei Wochen trampe ich los. Ich bin schon bei der Vorstellung, an der Straße zu stehen und den Daumen in den Wind zu halten, ganz aufgeregt. Es geht Richtung Osten (seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgetrampt). Ich werde vom Obersalzberg bei Berchtesgaden nach Auschwitz trampen.

Die Idee kam mir beim Zeitunglesen. Irgendwo stand, dass mehr Menschen aus Deutschland und den USA sich das ehemalige "Führersperrgebiet" am Obersalzberg anschauen als das KZ in Auschwitz. Das kann nicht nur an der schöneren Aussicht liegen. Da stimmt doch was in den Köpfen nicht. Und wo kann man besser in die Köpfe gucken als beim Autofahren?

Der Rucksack steht bereit und das Pappschild mit der Aufschrift "Auschwitz" habe ich auch schon gemalt. Am 6. August geht es los, einmal quer durch Deutschland. Ich stelle mir jetzt schon ein anregendes Gespräch vor im Opel Astra eines sächsischen Glatzkopfes mit Thor-Steinar-T-Shirt. Oder das fragende Gesicht eines jungen Wuppertalers: "Auschwitz, Auschwitz? Nie gehört." Vielleicht wird ein Rentner mich in Bayreuth mitnehmen und am Lenkrad seines Mercedes murmeln, "da war doch was, da war doch was". Irgendetwas wird ganz sicher passieren - ich war selten auf einen Urlaub so gespannt wie auf diesen.

Das Schlimmste, was mir geschehen kann: Niemand nimmt mich mit. Sie lesen das Schild "Auschwitz" und geben Gas. Man erschrickt, wenn man das liest. Und so stehe ich zwei Wochen lang am Stadtrand von Berchtesgaden, die Touristenbusse zum "Hitler-Berg" fahren an mir vorbei und mein Pappschild weicht im Regen langsam auf.

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Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

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