Debatte EU-Wahlen: Das Pöttering-Syndrom

Keine EuropaparlamentarierIn wird in deutsche Talkshows eingeladen, daher kennt auch niemand die Leute in Brüssel. Aber: Politik ohne jede Kenntnis von PolitikerInnen funktioniert nicht.

Es ist seit Jahren das gleiche Ritual - und es ist zum Lachen: Dieselben Medien, die das Europäische Parlament durchweg ignoriert haben, deuten kurz vor der Wahl das Desinteresse des Publikums als Zeichen der Europamüdigkeit. Die Wahl interessiere niemanden, deshalb gehe kaum einer hin und dies sei auch verständlich, angesichts einer intransparenten, bürokratischen und bürgerfernen EU-Politik; und überhaupt: wer kennt denn diese Abgeordneten?

In der Tat sind die Namen von Europaparlamentariern in Deutschland topsecret - dabei lebt Politik bekanntlich von der Personalisierung. Viele schweigen mit, an erster Stelle das Fernsehen. Ich schalte in diesen Tagen verstärkt die deutschen Sender ein, speziell die Nachrichten und Magazine der öffentlich-rechtlichen Sender. Gibt es, frage ich mich da, so etwas wie ein Pöttering-Syndrom? Pöttering, fragen Sie? Wer ist Pöttering? Sie kennen Sarah Palin. Sie kennen Michelle Obama und ihre Kinder. Die deutschen Medien ließen sich genüsslich treiben von dem Wahlkampf- und Umfragemüll, den die Amerikaner zelebrierten. Und das ist leicht erklärbar. Das Format Präsidentenwahl ist fernsehtauglich, nicht nur weil Schwarz gegen Weiß antrat.

Eine Europawahl ist das genaue Gegenteil. Wer ist Pöttering, wer hat für den Emissionshandel gestimmt, wer für die Migrationsrichtlinie und für den Lissaboner Vertrag - und was stand da nochmal drin? Sie wüssten es, wenn unsere Medien 10 Prozent der Zeit, die sie für die US-Wahlen übrig hatten, den europäischen Wahlen schenken würden. Im niederländischen Fernsehen ist das übrigens ähnlich. Das berichtet auch nichts über die Abgeordneten, die ich in Maastricht wählen soll. Bei einer lokalen Veranstaltung der liberalen VVD bekannten die Kandidaten offen, dass es sich bisher um eine Kampagne handele, die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinde. Der Blick ist auch hier fest auf Den Haag gerichtet, und Probleme gibt es in Zeiten der Bankenkrise genug, die nationale Aufmerksamkeit aufsaugen

Erwarte ich vom Fernsehen zu viel, weil ich mich täglich beruflich mit der EU beschäftige? Was ist mit der Berichterstattung wirklich los? Ich habe einen Mann angerufen, der sich auskennt. Rolf-Dieter Krause ist der Leiter des Brüsseler ARD-Studios und verantwortlich für den Bericht aus Brüssel, der im Dritten (WDR) jeden Mittwoch um 21.55 Uhr läuft. Er sieht das Ganze erfrischend anders. Was, bitte schön, sagt er, sollen wir denn berichten? Was machten denn die deutschen Parteien, um diese Wahl spannend zu machen? Wo sehe man den Kampfeswillen, politisch wirklich was zu bewegen in der EU? Den könne er nicht mal in Bayern ausmachen - und für die CSU gehe es ja immerhin um etwas.

Tatsächlich scheint es so, als ob die deutschen Parteien in erster Linie Geld sparen bzw. umlenken wollen: europäische Gelder für die Bundestagswahl. Es sind also die Parteien selbst, die das Europäische Parlament und die eigenen Leute klein halten. Nehmen wir die Grünen: Cem Özdemir ist hier keine Ausnahme, da er im Grunde als Bundespolitiker mit Auszeit gegolten hat. Bütikofers Gang nach Europa, so gemein das klingen mag, hat immer noch das Geschmäckle von "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa". Die Aufstellung von Sven Giegold und Barbara Lochbihler ist vielleicht ein innenpolitischer Coup mit Blick auf die sozialen Bewegungen. Beide sind allerdings bisher nicht als EU-Experten aufgefallen. Wer das Mitentscheidungsverfahren zwischen Rat und Parlament kennt, weiß, wie wichtig Erfahrung und langjährige Netzwerke sind, über die Grüne wie Hiltrud Breyer und Friedrich-Wilhelm zu Graefe Baringdorf verfügten. Beide gelten in Brüsseler Kreisen als einflussreiche Abgeordnete. Das ist aber anscheinend auf einer Delegiertenversammlung nicht relevant, Breier und Baringdorf wurden verdrängt. Man weiß in Deutschland schlicht nichts von ihrer Arbeit. So schaukeln sich national ausgerichteter Parteienkonsens und fehlende Berichterstattung gegenseitig hoch.

Pöttering? Wer ist das?

Es gibt Beispiele aus anderen Parteien: Ist Martin Schulz, der Fraktionsvorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, in der deutschen SPD eine große Nummer? Wird Verheugens Gesicht eingesetzt, um für die SPD und die EU zu werben? Und wie sieht es bei der Europapartei CDU aus? In EU-Veranstaltungen für deutsche Beamte zeige ich manchmal Fotos von einem gutaussehenden Herrn mit Silberlocke. Als kleinen Tipp füge ich hinzu, dass es sich um einen Deutschen handele, eine der wichtigsten Figuren der Brüsseler Szene. Pöttering? Unbekannt. Dabei ist Hans-Gert Pöttering von der Europäischen Volkspartei Präsident des EU-Parlamentes und spielt damit eine viel wichtigere Rolle als ein Bundestagspräsident - vor 2007 war er übrigens Fraktionsvorsitzender der größten Fraktion im Parlament.

Wie viele Europaabgeordnete kennen Sie? Wie oft haben Sie einen Europaabgeordneten bei Anne Will, bei Maybrit Illner oder bei Frank Plasberg gesehen? Ich halte jede Wette gegen die drei Redaktionen, dass sie in den letzten Jahren über ein, zwei Ausrutscher nicht hinweggekommen sind. Daniel Cohn-Bendit wird ab und zu eingeladen - vermutlich, obwohl er MdEP ist. Und das häufige Erscheinen der telegenen Silvana Koch-Mehrin von der FDP verdeutlicht nur die Abwesenheit der anderen. Diese hat sich sehr geschickt auf inländisches Marketing konzentriert. In Brüssel und Straßburg haben die interessante Arbeit an Gesetzen andere gemacht.

Wie aber könnte man etwa vom Emissionshandel reden und die Verhandlungen dazu talkshowgerecht aufarbeiten? Wie ein Parlament erklären, das über Parteigrenzen hinweg komplizierte Kompromisse schmiedet? Einleuchtend, dass die Redaktionen vor diesen Fragen zurückschrecken. Parteien und Medien ergänzen sich glänzend: Die Parteien nehmen das EU-Parlament nicht ernst und unterstützen ihre eigenen Köpfe nicht. TV und Print spielen gerne mit und verweisen wiederum auf die Parteien. Aber eine konstruktive Europadebatte kann es nicht geben ohne Berichterstattung über die handelnden Personen in Brüssel. Die Abgeordneten sind der Schlüssel zum Verständnis europäischer Demokratie. MARTIN UNFRIED

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