Das Medienereignis Amoklauf: Winnenden. Die Story

Eine Schar internationaler Journalisten berichtet mittlerweile aus dem Städtchen mit rund 27.000 Einwohnern. Die Bürger fragen sich: Wo hört Berichterstattung auf, wo fängt Voyeurismus an?

Journalisten müssen die Sprachlosigkeit in Winnenden in Worte und Bilder verwandeln. Bild: reuters

"Gegen Paparazzi! Non télé! Gegen Presse! Keine Presse und kein Fernsehen!" Winnenden am Tag nach dem schrecklichen Amoklauf: Die Schüler des Lessing-Gymnasiums haben an die Scheiben ihrer Klassenzimmer unmissverständliche Antipresseschilder geklebt. Drinnen sprechen sie über das schreckliche Blutbad vom Tag zuvor, direkt neben ihnen, an der Albertville-Realschule, und sie wollen es nicht: dass eines der Dutzenden Kamerateams in eines ihrer Klassenzimmer zoomt. Dass ein Reporter mit gezücktem Stift vor dem Flachbau wartet und fragt: Wie war es? Wie fühlt ihr euch? Kannte jemand Tim K.? Sie wollen ihre Ruhe haben.

Den ganzen Tag kommen Schüler, Lehrer, Eltern vor die Albertville-Realschule, belagert von der Presse. Dort, wo sonst Schüler nach dem Unterricht neben dem Gehsteig auf Steinen sitzen und schwatzen, liegen Blumen, Kerzen, Teddybären. Groß steht der Name eines Schülers auf einem mit Herzen verzierten Plakat, ein Mädchen hat unterschrieben, daneben: "I miss you." Auf einem regendurchweichten Zettel in geschwungener, blauer Schrift: "Ich fühle mich so leer. Warum?"

Und jede Träne wird verfolgt, von Dutzenden von Kamerateams. Auf den ersten Blick scheint die Einfahrt zur Albertville-Schule von einem hohen Zaun geschützt, aber nein, es ist ein Spalier aus Kameras, die, im Halbkreis aufgestellt, Bilder von den Trauernden in alle Welt senden. Auf einer matschigen Wiese legen Betroffene Blumen nieder, der Wind lässt drei Flaggen auf halbmast in einem traurigen Klingklong gegen das Gestänge stoßen.

In der Schule sind noch Bundeskriminalamt und Landespolizei mit der Spurensuche beschäftigt. Sie wollen die Tat rekonstruieren und auch sichergehen, dass es keinen zweiten Täter gab. Reine Routine, sagt ein Sprecher, man sei sich 100 Prozent sicher, dass es Tim K. war.

Winnenden wird von Medien belagert, und die Bürger fragen sich: Wo hört Berichterstattung auf, wo fängt Voyeurismus an? Beim Trauergottesdienst am Mittwochabend quillt die katholische Kirche förmlich über, unter der hohen, schmucklosen Decke ist unentwegt das Klicken der Fotoapparate von der Empore zu hören. Der Bischof bittet um Ruhe, aber immer wieder werden Kameras zur Tür hineingestreckt. "Schenke unseren Schülern Schutz vor Sensationsgier", betet der Bischof nach einer bewegenden Predigt.

Ein wahres Gebet und doch, einen Tag später sitzen zwei Schüler in einem Café in Winnenden und sagen: "Wir wollen darüber reden. Wir wollen, dass die Menschen wissen, wie es war, und dass so etwas nie wieder passiert." Das sagen Markus, 15 Jahre, und Bastian, 16 Jahre, aus der 10d der Albertville-Realschule. Tim K. hat in der 10d sechs Schülerinnen erschossen. Bastian hat es sich zweimal überlegt, ob er kommt. In eine Kamera des ZDF wollt er am Tag zuvor nichts sagen. Jetzt würde er es vielleicht tun. Sie wirken schüchtern, Markus mit schwarzer Kappe, hellen Augen und bubenhaftem Gesicht, Bastian mit kurzen, glatten, blonden Haaren und Schlabberpulli. Als sie die ersten paar Mal erzählt haben, was passiert ist, haben sie gezittert und geschwitzt, sagen sie. Jetzt geht es. Markus hat mit einem der Psychologen aus dem ganzen Bundesland gesprochen, die an diesem Morgen in der Stadthalle Schüler, Eltern und Lehrer der Albertville-Schule betreuen.

Bastian und Markus saßen in der zweiten Reihe der Klasse. Die Schülerinnen, die jetzt tot sind, in der letzten. Die Tür ist hinten im Raum. Markus hört Schüsse, denkt an einen Scherz, dreht sich um, erkennt Tim K., der auf die Schülerinnen zielt, die rein zufällig getroffen wurden, glaubt Markus , weil in der letzten Reihe eben nur Mädchen sitzen. Der Lehrer hechtet hinter den Tageslichtprojektor, Bastian kauert unter der Bank und denkt nur: "Bitte komm nicht wieder, bitte hör auf zu schießen." Er kommt wieder, schießt wieder, dann ist er weg. Markus und Bastian fliehen als Erste über die Feuerleiter aus dem zweiten Stock. Sie rennen über die matschige Wiese, die Straße entlang ins benachbarte Hallenbad. Dort, erzählt Markus, lachen sie wie wahnsinnig: Bastian hat einen Schuh verloren. Lachen aus Verzweiflung. Der Schuh ist wohl verloren, die Spurensicherung hat ihn. "Richtig bewusst wird einem alles wohl erst, wenn man sieht, welche Sitze in der Klasse nun leer sind", sagt Markus am Ende des Gesprächs.

Jedes Gespräch in der Stadt beginnt mit: "Entschuldigung, falls es wirklich nicht stört, ein paar Fragen …" Aus den meisten sprudelt es heraus, sie wollen reden und sind kaum zu stoppen. Nur einmal sagt eine Frau: "Hauen Sie ab, Sie sind ein Unmensch, lassen Sie die Leute in Ruhe." Klischee, aber eben wahr: Ein Bild-Reporter steht am Tag des Anschlages vor der Albertville-Realschule, in der noch immer zwölf Tote liegen. Er sagt, hier sei alles "abgegrast", es gebe nichts mehr zu holen, er gehe jetzt.

Am Tag des Anschlags ist die kleine Stadt wie ein Spiegel der großen Welt: manche Bürger sind betroffen, fassungslos, manche erregt. Beim Griechen in einer Nebenstraße der gepflasterten Fußgängerzone mit seinen kleinen Fachwerkhäusern zählen ein paar Alte die Toten nach, als ging es um Tore in einem Bundesligaspiel. Ein Schüler spricht vor der Tobi-Discount-Bäckerei mit einem Kumpel, der im ersten Stock zum Fenster rausschaut: "Alter, ich war im Computerraum. Alter, ich hab Schüsse gehört!" Er klingt, als solle auch ja jeder mitbekommen, dass er dabei war. Später im Gottesdienst in der Kirche nebenan ist alles anders. "Menschen sind eben sensationshungrig", sagt ein Schüler, der seine Tränen zurückhalten will. Schüler kollabieren und werden von Sanitätern aus der Kirche getragen.

Die meisten kommen am nächsten Tag wieder vor die Schule, wo die Kameras Spalier stehen. Am Beginn der Albertville-Straße laufen sie an einer silbernen Tafel vorbei, die an einer niedrigen Mauer vor dem Park der Psychiatrischen Landesklinik befestigt ist. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", steht darauf.

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