Weltwirtschaftskrise: Der überforderte Kapitalismus

Die USA stemmt sich mit einem 2 Billionen-Programm gegen die Abwärtsspirale. Jetzt zeigt sich: Der Neoliberalismus hat die Welt ins größte Desaster seit Hitler und Stalin geritten.

Too big to fail? Was soll das heute schon noch heissen? Das Financial District in New York. Bild: dpa

1.000.000.000.000, eine Billion Dollar, so viel will die Obama-Regierung in die Finanzwirtschaft pumpen. Wohlgemerkt: nur ins Bankensystem. Rund 800 Milliarden zur Stimulierung der einbrechenden Konjunktur kommen noch dazu. Eine irre Zahl, mit viel Symbolwert. Das ist nicht nur ein "Hilfsprogramm", das den privaten Investoren die Verluste abnimmt, nachdem sie jahrelang die Gewinne eingesackt haben. Wie immer der Plan von US-Finanzminister Timothy Geithner im Detail aussehen wird, der Staat wird die Bedingungen diktieren. Im Extremfall werden Banken, die praktisch insolvent sind, verstaatlicht werden. Die Idee dabei: Wenn die Finanzhäuser mal wieder saniert sind, werden nicht die heutigen Investoren verdienen, sondern das Gemeinwesen wird hoffentlich etwas zurückerhalten. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit.

Noch gibt es ein paar Unentwegte, die uns immer noch sagen: Das mag gerecht erscheinen, jedoch sei dieser Weg ökonomisch ganz falsch. Schließlich sei der Staat doch ein schlechter Unternehmer. Nun, das mag sein. Aber ein schlechterer Unternehmer als die, die gegenwärtig das Sagen haben, kann er gar nicht sein.

Der Staat ist zurück. Für einen Augenblick wollen wir festhalten, wie paradox das ist. Die "Mehr privat, weniger Staat"-Ideologie schwappte aus den USA über die westliche Welt. Wobei der Begriff "Ideologie" nur ein Hilfsausdruck ist. Denn es war nicht eine Idee schwindliger Ideologen, sondern Regierungspraxis. Mit Ronald Reagan war ein Präsident ins Weiße Haus eingezogen, der von der Spitze der Regierung aus stets bekundete, dass der Staat letztendlich etwas Schlechtes ist. Ein Regent, der gegen das Regieren regierte. Unter George W. Bush setzte sich diese Tragödie als Farce fort. Eines der Kuriosa dieses Sachverhalts ist, dass deshalb diese Ideologie auch nicht Schaden nahm, wenn ihre Verfechter grottenschlecht regierten. Schließlich konnten sie einwenden: "Ja, Regierungen sind eben etwas Schlechtes, haben wir ja immer schon gesagt." Gut sind die Märkte, die Privatinitiative, die unsichtbare Hand. Schlecht sind die Institutionen, die Regeln, die Ämter, die Bürokraten - bis zum vergangenen Herbst.

Damals, nach dem Infarkt der Finanzmärkte infolge der Lehman-Pleite, kollabierte der Kapitalismus nur deshalb nicht, weil der Staat ihn gerettet hat. Es war die größte Staatsinterventionswelle seit Wladimir Iljitsch Lenin.

Mittlerweile zeigt sich, dass die Hunderte von Milliarden, die in den Finanzsektor gepumpt wurden, nicht ausgereicht haben - auch nicht die konzertierten Aktionen der wichtigsten Notenbanken. Das globale Finanzsystem ist zu sehr beschädigt. In den Bilanzen der Banken schlummern faule Kredite und unberichtigte "Werte", also krass überbewertete Wertlosigkeiten, in exorbitanter Höhe. Deswegen hat sich erst in den vergangenen Wochen wirkliche Katastrophenstimmung breitgemacht. Bislang hat man sich, bei all dem Desaster, noch in Sicherheit gewogen, die rund siebzig global "systemrelevanten" Banken und Investmenthäuser seien "too big to fail". Das Vertrauen werde schon zurückkommen und auch die Kreditmärkte würden wieder in Schwung geraten. Aber was passiert, wenn der Schuldenberg so hoch ist, dass nichts mehr geht?

Genaue Daten kennt niemand, stattdessen raunt man sich Horrorzahlen zu: 2.000 Milliarden Euro an faulen Krediten in den Bilanzen deutscher Banken, 270 Milliarden an ausstehenden Darlehen in den Bilanzen österreichischer Banken, zum Großteil Kredite in Osteuropa. Noch sind es "nur" die Schrottpapiere wie jene "Asset Backed Securities", die berühmten Bündel amerikanischer Immobilienkredite, die große Löcher reißen. Aber diese Vermögensverluste setzten eine Kettenreaktion in Gang mit fatalen Rückkopplungseffekten. Investoren, die viel verloren haben, ziehen ihre Investitionen anderswo ab, um liquide zu bleiben. Weil alle gleichzeitig verkaufen, verfallen die Preise. Die Konjunktur schmiert ab. Auch "normale" Kreditnehmer, Unternehmer in der "Realwirtschaft" gehen pleite oder können zumindest ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. Wenn ein Risiko schlagend wird, werden gleich viele Risiken schlagend, weil einer, der fällt, mehrere mit ins Loch reißt. Ganze Staaten könnten pleitegehen - nicht nur weit hinten in Asien oder nahe dem Polarkreis. Ungarn, die Ukraine und Griechenland sind Kandidaten. Selbst wohlhabende Länder könnten dann ihre Banken womöglich nicht mehr retten. Verluste von zwei Dritteln des Bruttoinlandsprodukts würden sogar Deutschland überfordern.

Langsam wird klar, wie groß das Ausmaß der potenziellen Katastrophe ist. Der Neoliberalismus hat der Welt das größte globale Desaster seit Hitler und Stalin beschert. Tolle Bilanz.

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