Kolumne the stars down to earth (3): Noch nie gesehen, schon oft gehört

Auf den Filmpremieren der Berlinale gibt es einige neue Dinge zu sehen. Zum Beispiel einen vollgeschissenen Kinderpopo.

Manchmal geht es ja einfach nur darum, dass ein Film ein Vorwand ist, einem etwas zu zeigen, das man noch nie im Kino gesehen hat. Es gibt ja sehr viele Dinge, die man noch nie im Kino gesehen hat. Ja, im Alltagsleben geschieht es oft, dass man nur deswegen in Gedanken einen Spielfilm konzipiert, weil man etwas im Kino zeigen will, was man gerade gesehen hat.

Ich weiß ja, dass alle François Ozon alles verzeihen, aber ich fand den ausgedachten Familienkitsch in "Ricky" unerträglich. Zauberhaft reaktionär. Aber ich habe hier zum ersten Mal in detaillierter Opulenz in einem Kinofilm gesehen: einen vollgeschissenen Kinderpopo. Wow! Ganz schön eklig, aber auch komplex. Es gab Kinderscheiße schon oft im TV, aber schüchtern verschmiert und nicht wirklich stinkend. Der Ozon, der kann schon was.

Was ich auch nur selten gesehen habe: eine derart dickköpfig durchgehaltene Darstellung der uramerikanischen Idee des pure american product wie in "The Reader". Von William Carlos Williams ist überliefert: "The pure products of America go crazy." Er bezieht dies auf rührende, eigensinnige, ambitionierte und stolze, aber ungebildete, wenig integrierte Charaktere. Man hat es von Huckleberry Finn über Elvis Presley bis zu Daniel Johnston auf die verschiedensten Figuren adaptiert.

Fehl am Platze ist es bei einer deutschen KZ-Wärterin. Kate Winslet gibt die nämlich unkonventionell, eigensinnig, wenig integriert, einzelgängerisch, aber prinzipientreu und stolz. Diese rührende Amerikanerin sitzt nun als deutsche KZ-Wärterin neben fünf deutschen deutschen KZ-Wärterinnen, die hart, sadistisch, kalt, böse, konventionell und fremdgesteuert wirken, eben so, wie man sich KZ-Wärterinnen vorstellt. Dazu übel faschistisch frisiert. Wenn man die - aus vielen Gründen dubiose - Idee von "The Reader" verfolgt, nämlich zu Bedenken zu geben, KZ-Wärterinnen seien auch Menschen, und zwar in der ganzen Bandbreite des Menschseins bis hin zum pure american product, kann man unmöglich den Rest der KZ-Wärterinnen als - nun ja: KZ-Wärterinnen darstellen.

Ich habe einige Dinge gesehen, die ich vorher noch nie gesehen habe, aber kaum etwas gehört, was ich nicht schon oft gehört hätte. Als Brian Eno für seine "Music For Airports" einen überirdisch kristallklar wirkenden Klang für Klaviertöne designte und diese ausstellte wie singulär im Raum baumelnde Klangkugeln, ahnte er nicht, dass er mit gut dreißigjähriger Verspätung einen Boom für genau diesen Klavierklang als Filmmusik auslösen sollte. Heute bauen Filmemacher der unterschiedlichsten Provenienz auf diesen Piano-Sound, selbst in der stolz trockenen Berliner Männer-können-nicht-sprechen-müssen-daher-töten-Studie "Distanz" von Thomas Sieben klimpern diese dämlichen Klänge und signifizieren wohl den ebenso unguten Prozess im Schädel des jungen Mörders. Es gibt schlechtere Filme, die mit diesem Sound ruinieren, was eh nicht zu retten ist, betrüblicher, wenn es etwas kaputt zu machen gibt.

Ein anderer Klang, das Stampfen von Flamenco-Tänzerinnen, ist demjenigen vertraut, dessen Arbeitsplatz sich einmal unter dem Centro Cultural de España von Köln befand. In "Solo Quiero Caminar" - bisher einer der drei besten Filme des Festivals - wird dieser Lärm eingesetzt, um stumpfe, Fußball guckende Männer davon abzulenken, verdächtige Geräusche beim Knacken eines Tresors wahrzunehmen. Was leider misslingt. Dafür werden wir für die Notwendigkeit solcher Ablenkungen im weiteren Verlauf des Films sensibilisiert.

Wir sehen nun die alles Mögliche bewachenden Gangster nur noch aus der behavioristischen Perspektive von vier sich rächenden Diebinnen: Wie bringt man die bis an die Zähne bewaffneten Knilche dazu, so und nicht so zu reagieren? Mal werden sie von langer Hand manipuliert, mal müssen Augenblicksentscheidungen das eigene Leben retten. Diese alles entscheidenden Geräusche steigern aber die Empfindsamkeit für die Soundspur. Besonders schön ist dann der Moment, wo abrupt und doch langsam "Gimme Shelter" von den Stones entsteht, das sich aber, passend zum Feminismus des Films, als "Gimme Shelter" von Patti Smith herausstellt.

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