Häftlinge mit psychischen Störungen: Der Gesundheitsentzug

Bei der psychologischen Behandlung von Häftlingen versagt das Justizsystem. Sie bleiben sich selbst überlassen - keine gute Voraussetzung für die Resozialisierung.

Für Therapien fehlt das Personal. Bild: dpa

Zum Stichtag 31. August 2008 zählte das Statistische Bundesamt in 194 deutschen Gefängnissen 73.203 Gefangene im offenen und geschlossenen Vollzug, darunter 3.916 Frauen. Bei diesen Zahlen werden alle Haftarten berücksichtigt, also auch die Untersuchungshaft, Jugendstrafe und Sicherungsverwahrung. Im Strafvollzug waren 31.646 Insassen zu Freiheitsstrafen über 1 Jahr verurteilt.

Im Ländervergleich stehen NRW und Bayern mit 37 bzw. 36 Gefängnissen an der Spitze.

Maik M. lebt wieder. Auf der Intensivstation haben sie ganze Arbeit geleistet. Das war vor einem Monat und nun kann er darüber reden. Eine Abschieds-SMS habe er getippt, dann 8.700 Milligramm des Antidepressivums Doxepin geschluckt, mit zwei Flaschen Bier runtergespült, dann aufs Sofa, noch einmal umgeschaltet mit der Fernbedienung und weg war er. Genauso redet er darüber. Sein Psychiater sagt, Maik wollte ernsthaft sterben und dass seine Persönlichkeitsstörung schuld daran sei, seine Impulsivität und sein verzerrtes Selbstwertgefühl. Und dann sagt der Arzt noch: "Hätte man ihn im Gefängnis vor seiner Entlassung psychiatrisch behandelt, hätte man ihm Mittel an die Hand gegeben, mit seinen Problemen umzugehen, dann - das glaube ich fest - wäre es nicht so weit gekommen."

Aber im Knast gab es keine Hilfe für den verurteilten Drogenhändler. So wie es für viele psychisch kranke Straftäter keine Hilfe gibt. Eine in Deutschland bislang einmalige empirische Untersuchung hat ergeben, dass 88 Prozent aller inhaftierten Straftäter an einer psychischen Erkrankung leiden. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Gefangene, die schuldunfähig sind und zum Schutz der Allgemeinheit im Maßregelvollzug untergebracht werden. Die Studie untersuchte, wie viele Gefängnisinsassen zum Nervenarzt müssten oder eine adäquate psychiatrische Versorgung bräuchten.

Die Daten wurden durch ein Forscherteam des Aachener Uniklinikums und des Bielefelder Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Brackwede I gesammelt. Die Ärzte und Psychologen studierten in den Jahren 2002 und 2003 die Akten von 139 zufällig ausgewählten männlichen und weiblichen Insassen, befragten sie anschließend anhand standardisierter Fragebögen und klassifizierten die Ergebnisse nach international gültigen Systemen.

Die Ergebnisse seien alarmierend, sagt Frank Schneider, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und Mitautor der Studie ist (siehe Interview). Die Zahlen übertreffen die Vergleichsdaten der Allgemeinbevölkerung je nach untersuchter Erkrankung um das Drei-, Vier-, teilweise um das Siebenfache. Über 70 Prozent der Inhaftierten litten an "substanzbezogenen Störungen", wobei die Männer eher alkohol- und die Frauen eher opiatabhängig waren. Etwa ein Drittel aller Gefangenen wies Angststörungen auf. Bei den Frauen nahmen hier posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit über 30 Prozent eine herausragende Stellung ein. Auch in der Gruppe der psychotischen Störungen (beispielsweise Schizophrenie) und der affektiven Störungen (Depressionen) lag die Häufigkeit einer Erkrankung massiv höher als in der Normalbevölkerung.

Bei 83 Prozent der Gefangenen bestehe direkter, fachspezifischer Behandlungsbedarf, der "bisher im Strafvollzug nicht oder nur unzureichend befriedigt wird", so ein Ergebnis der Studie. Bezogen auf die im Untersuchungszeitraum in NRW einsitzenden 16.400 Straftäter kommt die Untersuchung auf knapp 8.000 Gefangene, die eine therapeutische Behandlung nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) brauchen - und auch wollen.

Dem gegenüber steht ein verschwindend geringes Angebot. Dazu zählen in NRW heute rund 177 Sozialtherapiehaftplätze und 502 Plätze in den Drogenabteilungen der JVAs sowie 30 Betten in der Psychiatrischen Klinik des Justizvollzugskrankenhauses Fröndenberg. Wie viele Straftäter sich darüber hinaus in einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung in anderen Fachkliniken oder bei niedergelassenen Ärzten befinden, ist statistisch nicht erfasst. Aber die Erfahrungen der Wissenschaftler lassen den Schluss zu, dass es sich um Einzelfälle handelt.

Die Zahlen sind aussagekräftig für den Strafvollzug in ganz Deutschland. Die Ergebnisse bestätigen eine Studie aus dem Jahr 1996, die den Anteil stationär psychiatrisch behandelter Inhaftierter in zehn Bundesländern auf unter 1 Prozent beziffert. Neben dem Justizministerium in Düsseldorf verzeichnet man auch in anderen Bundesländern eine hohe Zahl und sogar einen Anstieg an psychisch auffälligen Gefangenen. Darauf reagierte zum Beispiel Hessen im vergangenen Oktober mit der Einrichtung von 40 zusätzlichen Betten in der JVA Weiterstadt. Auf der letzten Justizministerkonferenz spielte das Thema allerdings nur am Rande eine Rolle - die Politiker reagieren behäbig; eine statistische Erfassung aller Behandlungsfälle wird bislang in keinem Bundesland für nötig gehalten. In NRW selbst kam es nach der Studie zu einer Anhörung der Verfasser vor dem Rechtsausschuss des Landtags. Die Justizverwaltung hatte laut Ministeriumssprecher die Anregungen seinerzeit mit sehr großem Interesse aufgenommen. Derzeit wird geprüft, ob die psychiatrische Abteilung in Fröndenberg weiter ausgebaut werden kann.

"Die Verhältnisse sind schlimm", sagt Carl-Ernst von Schönfeld, der als leitender Arzt der Tagesklinik Bielefeld-Bethel die Studie mit konzipiert und durchgeführt hat. Von Schönfeld arbeitet seit 17 Jahren als Konsiliarpsychiater in Brackwede I. Er wird vom Anstaltsarzt bei akuten Krisen hinzugezogen und bietet Sprechstunden in der JVA an. Brackwede I sei eine Ausnahme. Generell könne man sagen, dass der medizinische Dienst in den Anstalten seit etwa fünf Jahren kontinuierlich zusammengestrichen worden ist. Das trifft alle kranken Gefangenen, die mit psychischen Störungen aber besonders. Aus ärztlicher Sicht untragbar, sagt von Schönfeld: "Die Leute sind zum Freiheitsentzug und nicht zum Gesundheitsentzug verurteilt."

Die "Verrückten" stünden in der Knasthierarchie ganz weit unten. Das, was sie dringend bräuchten, nämlich menschliche Kontakte, Beschäftigung, Ansprache, werde ihnen meistens verwehrt, sagt von Schönfeld. Die Beamten hätten sich daran gewöhnt, dass sie "nicht richtig ticken" - und so würden die Frühwarnzeichen bei Schizophrenen oft nicht erkannt. Sie würden hinter den Gefängnismauern sogar für normal gehalten. Das sei der eigentliche Skandal. Beispielhaft erzählt von Schönfeld von seinem ersten Patienten: "Dieser junge Mann war schon seit etlichen Monaten inhaftiert. Der Punkt, dass er mir vorgestellt wurde, war erst erreicht, als er sich komplett mit Klopapier eingewickelt hatte. Er sagte, er wolle seine Schatten bei sich behalten." Der Mann hätte sich schon seit Wochen nicht mehr bei der Freistunde blicken lassen und sich völlig zurückgezogen. Solange er seine Mahlzeiten angenommen habe, hätten die Vollzugsbeamten in diesem Verhalten gar nichts Gestörtes gesehen. Erst als er da stand, ganz in Klopapier.

Selbst wenn ein Allgemeinmediziner in der Anstalt rechtzeitig feststellt, dass psychiatrischer Handlungsbedarf besteht, verhindert das Justizsystem die nötigen Schritte. Schneider, der selbst als Konsiliararzt über fünf Jahre lang in Düsseldorf gearbeitet hat und heute die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Aachener Uniklinikum leitet, geht so weit, zu sagen: "Ich bin der festen Überzeugung, dass den Patienten mit psychischen Erkrankungen im Strafvollzug die adäquate Diagnostik und Behandlung verweigert wird." Oft sei es aus juristischen Gründen nicht möglich oder zu kompliziert, einen Gefangenen aus dem Vollzug zu holen und in eine Fachklinik zu bringen. Oft werde ein Patient vom psychologischen Dienst betreut, der aber meist keine leitliniengerechte Therapie durchführen könne. Psychiater mit eigenen Sprechstunden wie in Brackwede I seien die absolute Ausnahme. Und Seelsorger, Sozialarbeiter oder Pädagogen seien nicht im Ansatz in der Lage, mit handfesten Persönlichkeitsstörungen, Psychosen oder Depressionen umzugehen.

Die Gefangenen lassen die Verhaltensauffälligen links liegen. "Das kennt man schon", sagt Udo, ein 31-jähriger Gefangener aus Block A in Brackwede I. "In Zelle 43 haben wir auch so einen, der liegt den ganzen Tag nur rum." Aber Udo - schlechte Zähne, knopfgroße Pupillen - hat seine eigenen Probleme. Er muss jeden Tag "auf die Jagd gehen" nach Heroin. Notfalls geht auch die Ersatzdroge Subotex. Sein ganzes Geld, 150 Euro, gehen dabei im Monat drauf. Der Markt wird durch den Besuchsverkehr mit praktisch allem versorgt. "Da kann ich mich nicht noch um andere kümmern."

Udo gehört zu der großen Gruppe suchtkranker Häftlinge, die ebenfalls bessere Therapieangebote dringend brauchen. In NRW sind von aktuell 17.760 Insassen laut Ministerium 8.140 Gefangene drogensüchtig. Bundesweit kann man davon ausgehen, dass zwischen einem Viertel und der Hälfte aller rund 73.000 Häftlinge von Alkohol oder illegalen Drogen abhängig sind. Für die Aachener und Bielefelder Forscher ist das deshalb brisant, weil laut ihrer Studie die sogenannte Komorbidität extrem hoch ist. Das bedeutet: Es gibt eine sehr große Schnittmenge von Straftätern mit Persönlichkeitsstörung und Drogensucht. Genauer gesagt litten in Brackwede I die meisten Untersuchten statistisch an mindestens drei Erkrankungen gleichzeitig.

So wie der 50-jährige Maik M., der den enormen Suchtdruck während der 21-monatigen Haft nach eigener Aussage unter anderem mit Schokoriegeln und sechs Litern Kaffee am Tag befriedigt hat. "Das war meine Therapie, wenn man so will." Ihm selbst war nicht bewusst, dass seine permanenten Schuldgefühle, seine Antriebslosigkeit und die bohrenden Selbstzweifel Ausdruck einer behandlungswürdigen Persönlichkeitsstörung waren. "Dass bei mir was nicht stimmt, habe ich erst draußen gemerkt. Im Knast hatte ich mich zurückgezogen und die Devise lautete: Augen zu und durch."

Die Ergebnisse der Studie haben die Anstaltsleitung in Brackwede I nicht sonderlich überrascht. Der stellvertretende JVA-Chef Oliver Burlage sagt, er hätte sogar ähnliche Zahlen getippt. Die hohe Zahl der Drogensüchtigen sei durch eigene Erhebungen des anstaltseigenen Suchtberaters ohnehin bekannt. "Natürlich fallen uns psychisch Kranke auf. Zum Beispiel durch die selbstgewählte Isolation, aber auch durch aggressives Verhalten oder durch mangelnde Hygiene." Ein Team aus Psychologen, Seelsorgern und Sozialarbeitern stehe auch zur Verfügung: "Wenn der Gefangene etwa in die Suizidalität kippt, dann treffen wir Sicherheitsmaßnahmen, um ihn vor sich selbst zu schützen."

Sicherheitsmaßnahmen, damit ist in der Regel der besonders gesicherte Haftraum gemeint, im Justizjargon kurz "BgH". Sondieren und beruhigen, meistens mit Medikamenten. Dass die Möglichkeiten der Krisenintervention aber noch lange nicht die nötige psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung sichert, räumt Burlage auch ein. Das sei schließlich auch eine Frage der zur Verfügung stehenden Mittel. In NRW würde schon sehr viel für den Strafvollzug getan, aber: "Der Bevölkerung ist schwer zu verkaufen, dass Millionen in die Gefängnisse gesteckt werden und möglicherweise dafür auf der anderen Seite keine Lehrer eingestellt und keine Kitaplätze geschaffen werden."

Es versucht auch keiner, der Bevölkerung irgendetwas zu verkaufen. Frank Schneider kommt zu dem trockenen Fazit: "Psychisch Kranke haben in unserer Gesellschaft keine Lobby. Psychisch kranke Straftäter erst recht nicht." Dabei würde die Gesellschaft unmittelbar von einer Verbesserung der Verhältnisse profitieren, sagt Carl-Ernst von Schönfeld. Stünden ausreichend therapeutische Ansätze zur Verfügung, ließe sich die Rückfallquote um ein Drittel senken. Ein Drittel weniger Straftaten, ein Drittel weniger neue Opfer. Im Zeitraum 1994 bis 1999 sind 14.659 Straftäter durch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rückfällig geworden - mehr als 50 Prozent.

Maik M. durchlitt seine erste Panikattacke, als er mit zwei Kartons vor dem Gefängnistor stand und auf seine Frau gewartet hat. Dann habe er in der Folgezeit alle Suchthilfeangebote der Umgebung abgeklappert. Eine Beraterin steckte ihn in eine Alkoholiker-Selbsthilfegruppe. "Was sollte ich da? Ich war nackt wie ein Baby und habe schreiend nach Hilfe gesucht. Diese Männer haben überhaupt nicht verstanden, wovon ich rede." Seine Familie brach auseinander, an seinem neuen Arbeitsplatz fehlte irgendwann ein Portmonee, dann wieder eine Attacke, mitten in der Menschentraube an der Bushaltestelle und dann haben sie ihn wieder mit Amphetaminen erwischt. Die Kosten-Nutzen-Rechnung fällt in seinem Fall sehr einfach aus: Eine psychiatrische Behandlung seiner Krankheit hätte ihn vor dem Selbstmordversuch bewahrt.

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