Kolumne Das Schlagloch: Schau vorwärts, Engel!

Um die Krise zu meistern, müssen wir unsere Metaphern der Lähmung verabschieden.

Das neue Jahr nimmt Fahrt auf, und Wirtschaftsweise wie Regierende stimmten uns schon mal auf "schwierige" Zeiten ein. Doch über allen dunklen und ungefähren Prognosen liegen die Schatten der Vergangenheit.

Die ökonomischen Experten schöpfen aus ihrer Erinnerung an das, was schon immer geschah, wenn jeder Einzelne, jede Firma und jedes Land seinen individuellen "Plan B" entwickelt: wenn Käufe zurückgestellt, Investitionen aufgeschoben und Kündigungen ausgesprochen wurden, um die Familie, die Firma sturmfest zu machen. Die Statistiker erinnern an die Zahlen der früheren Wachstumseinbrüche in Deutschland (Erste Ölkrise -0,9 %; Wendekrise: -0,8 %, New Economy-"Crash": -0,2%; Krise von 1929: -7,8%). Diesmal schwanken die Hochrechnungen zwischen 2 und 4 Prozent Schrumpfung im nächsten Jahr, und die Zeitungsleser erinnert das daran, dass die Voraussagen der Wirtschaftsgurus schon immer zu optimistisch waren. Sozialnostalgiker beschwören die Vergangenheit des geordneten Korporatismus, wenn sie nicht gar in Nationalismus regredieren. Und selbst die Warner vor der Klimakatastrophe (die zurzeit keine große Konjunktur haben) verschärfen die Brisanz ihrer Prognosen mit Rückschau: Das Schockierende an Harald Welzers Buch "Klimakriege" war nicht der Blick auf die Folgen der Erwärmung (die sind schon lange durchgerechnet). Sondern die Erinnerung daran, wie schnell sich die zivilisatorischen Mindestnormen einer ganzen Gesellschaft in Zeiten ökonomischer Krisen und politischer Spannungen ins Barbarische verschieben können. Beispiel Serbien, Beispiel Arisierung - um von Schlimmerem nicht zu reden.

Der Schutzengel aller rückschauend Vorausblickenden ist Paul Klees "Angelus Novus": die zerbrechliche Kritzelfigur, der Walter Benjamin seine messianisch-pessimistische Geschichtsphilosophie auf die schmalen Schultern legte. Der Engel der Geschichte, so schrieb er, blickt zurück; er kann nicht anders, weil "ein Sturm vom Paradies her" weht, so stark, dass er seine Flügel nicht schließen kann und so immer weiter mit dem Rücken zur Zukunft ins Ungewisse treibt. In der Vergangenheit sieht er nichts als Trümmer, Terror, Kriege und Opfer; der Sturm aber, "Fortschritt" genannt, nimmt kein Ende. Das war ein starkes Bild, gezeichnet von einem Gejagten, inmitten eines Weltenbrandes. In ruhigeren Zeiten wurde Benjamins schwarzmessianischer Engel dann zur melancholischen Ikone der happy few, flog durch mindestens tausend Seminararbeiten und zweihundert Dissertationen und schuf dabei so manchen Lehrstuhl. Ein wenig gilt das auch für den Helden der modischen Negri-Linken in den Neunzigern: die Verweigerungsfigur des Melvilleschen "Bartleby", der in der Ecke steht und nichts mehr will außer "I would rather not".

Wir sollten die beiden Metaphern der Lähmung verabschieden. Denn schon in den späten Siebzigern, als die Warnungen des Club of Rome öffentliches Wissen geworden waren, hat der Engel in einer kurzen Windstille seine Flügel eingezogen, sich schnell umgedreht und die Katastrophen der Zukunft - und ihre Vermeidung - in den Blick genommen. Und Bartleby gab seinen trotzigen Unwillen, das Falsche zu tun, auf, als in den Achtzigerjahren in Freimut Duves "rororo aktuell"-Reihe die heute noch aktuellen Konstruktionspläne für andere Städte, andere Schulen, andere Mobilität, andere Sozial- und Gesundheitssysteme vorgelegt wurden; Bartlebys stoische Energie speist schon lange NGOs aller Art, ministeriale Kioto-Verhandler, parlamentarische Einzelkämpfer und alle, die an den Mühen der Wiederholung nicht verzweifeln.

Die Zukunft, in die uns der "Fortschritt" weht, ist schon lange nicht mehr ungewiss. Aber genau diese Erkenntnis treibt immer weiter sehnsuchtsvolle Rückwärtsblicke hervor. Die "Wiederkehr der Religionen in Europa" etwa - aber die machte, wäre sie mehr als ein privatistischer Ausweichreflex, die Situation eher noch unkalkulierbarer. Und die "Renaissance bürgerlicher Werte"? Bis jetzt hat sie wenig mehr hervorgebracht als elitäre Klagen über den Verfall der Formen bei gleichzeitiger Behauptung geldgeschützter Idyllen. Nach vorne gedacht und ernst genommen, begründen diese Werte jedoch immer noch ein Programm für mehr als hundert Jahre Zukunft. Es ist kein utopisches, sondern ein zwingendes Programm: Die Universalisierung substanzieller Demokratie war lange Zeit utopische Mission im Aufgabenbuch der Aufklärung. Heute ist die Schaffung von Weltorganisationen zur solidarischen Verwaltung von Rohstoffen, Energien und öffentlichen Gütern zur schieren Friedens- und Überlebensbedingung geworden. Das zweite bürgerlichen Projekt, die Entfesselung von Wissenschaft und Technik, schuf kapitalgetrieben, ungesteuert und tief im Glauben an unendlichen Fortschritt Wohlstand (wenn auch nur für einen kleinen Teil der Erdenbürger) - von nun an und für immer muss technisches Genie sich daran bewähren, mit endlichen Ressourcen zu wirtschaften und eine Weltgesellschaft von zehn Milliarden zu organisieren.

Die dritte Leitidee des Bürgertums schließlich, die "allseits gebildete Persönlichkeit", eröffnet heute einen Ausweg aus der mörderischen Wachstumsspirale: Die Gesellschaften der Zukunft, vor allem und zunächst die des reichen Nordens, brauchen Bürger, die ihren Lebensstil vom Wissen über Notwendigkeiten leiten lassen und ihren Wohlstand nicht länger in materiellen Steigerungen rechnen, sondern im Zugewinn an Zeit für kulturelle und soziale Selbstbetätigung.

Als ich zwischen den Jahren die Zeitungen sichtete, war das Radikalste die Forderung, wir müssten jetzt überlegen, "wie wir in Zukunft leben wollen". Das las sich wie ein Rückblick auf Texte aus den Achtzigern und spiegelte doch nur den aktuellen Zustand unserer öffentlichen Meinung, in der sich die paar Töpfers und Welzers und Schumanns eben noch nicht zusammengefunden haben mit ein paar Asbecks und Ottos und Werners, ein paar Kirchenleuten wie Bischof Marx und ein paar politischen Einzelkämpfern wie Geißler oder Scheer - zu einer bürgerlichen Elite, die zehnmal so stark in die Redaktionen und die Talkshows wirkt wie die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", die im letzten Jahr verröchelte. Prognosen sind infiziert von Vergangenheit, wenn nicht - wie Brecht es schrieb - die Prognostizierenden sich selbst als Teil ihrer Vorausschau begreifen. Als Wollende, als Handelnde.

Und so bleibt mir zum Schluss dieser Neujahrspredigt wenig mehr als der Vorsatz, die apokalyptischen und die messianischen Engel endgültig aus meinem Repertoire zu streichen, und im Übrigen mit Alexander Smoltczyk (Spiegel 1/2009) zu sagen: Schluss mit den Reprisen, "fürs Navigieren im Nebel der Gegenwart reicht das innerliche GPS völlig aus - das gute alte protestantische Gewissen". Es kann auch das katholische sein oder das weltlich fromme. Denn wissen tun wir genug. Und mit der Frage "Warum habt ihr nichts getan?" haben wir lange genug unsere Eltern malträtiert.

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