Letzte Erinnerung an das Tourismusforschungs-Institut an der FU: Archivar des Reisens

Hasso Spode erforscht das Reisen als kulturelles Phänomen. Obwohl die Bestände seines Historischen Archivs für Tourismus einzigartig in Deutschland sind, wurde das zugehörige Institut von der FU abgewickelt.

Wer zu Hasso Spode will, muss sich auskennen. Das "Willy-Scharnow-Institut für Tourismus" der Freien Universität (FU) in Lankwitz, an dem Spode forscht, ist verwaist. Alle Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter sind weg, nur Spode und seine Kollegin Kristiane Klemm belegen noch zwei Zimmer am Ende eines verlassenen Flurs in Haus L. "Wie Sie sehen, gelten wir hier nicht gerade als exzellenter Fachbereich", sagt der Wissenschaftler mit dem angegrauten Dreitagebart sarkastisch und schenkt Tee ein.

Als die gemeinnützige Willy-Scharnow-Stiftung für Tourismus Anfang 2008 ihre Gelder für den Forschungsbetrieb kürzte, wickelte die FU das kleine Institut kurzerhand ab. Ausgerechnet im fremdenverkehrsgeprägten Berlin die Tourismusforschung einzustellen, ist ein "großer Quatsch", findet Spode. Wo doch Wissenschaftler aus aller Welt zu ihm kämen. "Wir haben hier nämlich einen Schatz."

Hasso Spodes Schatz liegt im düsteren Untergeschoss von Haus L. Auf 400 Regalmetern lagert dort ein in Europa einzigartiges Reisearchiv: Das Historische Archiv für Tourismus (HAT) umfasst Tourismusprospekte, Reiseführer, Fachzeitschriften, wissenschaftliche und literarische Länderkunden und private Fotoalben. Die Sammlung geht zurück auf ein Projekt des Betriebswirtschaftsprofessors Robert Glücksmann, der 1929 in Berlin das erste wissenschaftliche "Forschungsinstitut für den Fremdenverkehr" gegründet hatte.

Während es dem jüdischen Gründer, der seine Forschungsarbeit 1933 aufgeben musste, primär um die wirtschaftlich-praktischen Fragen der "Fremdenverkehrslehre" ging, interessieren seinen Nachfolger die kulturwissenschaftlichen Aspekte des Reisens. "Der Tourismus verändert unsere Welt", davon ist der Historiker und Soziologe Spode überzeugt. "Die Frage ist doch: Warum geben Menschen jedes Jahr Millionen aus, nur um ein paar Tage woanders sein zu können?"

Zum Beispiel der Gesundheit wegen: Im Weltcourier aus der Kaiserzeit warb das französi- sche Cannes damit, die "gesündeste Stadt an der Riviera" zu sein. Die Kur dürfte den wilhelminischen Gästen aber hauptsächlich als Vorwand für Lustbarkeiten wie Casinobesuche, Pferderennen und "Blumenschlachten" gedient haben, wie die Fotos der Anzeige beweisen. Nach Berlin fuhr man dagegen immer schon zum Vergnügen: Ein Baedeker von 1857 listet seitenweise Bierstuben und "Delicatess-Handlungen" auf. Die abgeschabten roten Baedeker-Bände gehören zu den ältesten Beständen des Archivs. Hasso Spode kann sich nach zehn Jahren Archivleitung immer noch an ihnen freuen. "Schauen Sie mal, wie winzig Berlin damals war", ruft er und deutet auf den Stadtplan, wo direkt hinter dem Halleschen Tor der Acker beginnt.

Besonders stolz ist der Wissenschaftler auf skurrile Fachzeitschriften wie die Illustrierte für Gesellschaftsleben und Reisen, in denen die reiselustige Oberschicht des 19. Jahrhunderts Inspiration für standesgemäße Nah- und Fernreisen fand. Oder die Badenummer der Lustigen Blätter von 1935, mit denen die Nazis das ostseeurlaubende Volk mit Rätseln, Illustrationen und politisch unverfänglichen Witzen unterhalten wollten.

"Die Nazis haben nicht nur den deutschen Massentourismus erfunden, sondern auch die Tourismuswerbung für Deutschland als Reiseland", sagt Spode und zieht das entsprechende Material aus dem Regal: Broschüren des Volksreiseprogramms "Kraft durch Freude" und einen Schuber mit Deutschland-Heften. Diese vom Reichsfremdenverkehrsverband herausgegebenen, auf edlem Papier gedruckten Illustrierten sollten ausländische Gäste zum Urlauben nach Nazi-Deutschland locken. Die Titelgrafiken zeigen Auto-Schauen, flotte Fräuleins in Golfhosen und extra eingerichtete Skigebiete - ein fortschrittliches Idyll.

"Ob es einem passt oder nicht: Rein tourismuswirtschaftlich war das vorbildliche Werbung", sagt Tourismusfachmann Spode und zeigt einen Prospekt der Berliner Landwirtschaftsschau "Grüne Woche" von 1935. Das Logo mit den Ähren hat sich bis heute nur minimal verändert. Auch das Brandenburger Tor, dessen staatstragende Pracht bereits die Nazis nutzten, ist nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil jeder Berlin-Werbung. Nur die Hauptstadt-Slogans haben sich leicht verändert: Dem schnöden "immer interessant" von 1938 folgte 1946 ein dramatisches "Berlin lebt, Berlin ruft" - auf dem dazugehörigen Stadtplan hatte man Bombenschäden einfach mit dem Stift übermalt.

Wer Grundlagenforschung zur Tourismusgeschichte betreiben oder Deutschland als Reisenation erforschen will, landet früher oder später im HAT. Im Gästebuch des Archivs finden sich Wissenschaftler aus der Ukraine, den USA und Namibia.

Die kulturwissenschaftliche Erforschung des Tourismus sei in den letzten Jahren in Mode gekommen, sagt Spode, der als Experte bereits unzählige Promotionsvorhaben und Buchprojekte begleitet hat. Wer also wissen will, warum und seit wann im Sommer deutsche Urlauber massenhaft an den Mittelmeerstränden einfallen, kann die Antwort Spodes Büchern "Goldstrand und Teutonengrill" oder "Wie die Deutschen Reiseweltmeister wurden" entnehmen. Oder im Archiv stöbern und feststellen, dass der "Studienkreis für Tourismus" zur Beantwortung dieser Frage eigens Psychologenehepaare und Theologen zur Beobachtung ihrer Landsleute an die Adria schickte.

Die lebensnahste Auskunft über die Reiselust der Deutschen dürften aber die vielen Fotoalben geben, die ein Regal an der Stirnseite des Archivkellers füllen. Es sind Schenkungen aus privaten Nachlässen. Das Berliner Bäckerehepaar Salowsky etwa bereiste seit 1943 erst die Krim, dann Schlesien, später sämtliche Gegenden Deutschlands und Jugoslawien. Den privaten Schnappschüssen sind getrocknete Blumen und Ansichtspostkarten beigefügt.

Ein Professorenehepaar, das fast ebenso viele Regalmeter belegt, ging seine Reisen dagegen mit akademischem Eifer an. Zahllose Fotos von historischen Denkmälern, Kunstwerken und Bauwerken wechseln sich mit Zeitungsausschnitten über aktuelle Geschehnisse ab.

Und der Nippes, der im Regal steht? Russische Teelöffelchen, japanische Teebecher, Städtewappen und Wandreliefs aus sämtlichen Ecken der Welt? Spode seufzt. Staatsgeschenke für Senatsmitglieder, die diese nicht annehmen dürften, oder kleine Gaben dankbarer Gastforscher: Auch in einem wissenschaftlichen Archiv ließe sich eine gewisse Ansammlung von Reisesouvenirs nicht vermeiden. Woher aber die altertümlichen Holzskier in der hinteren Ecke stammen, weiß noch nicht einmal der Herr des Archivs.

"Die Bestände sind noch nicht vollständig erfasst", sagt Spode. In Kisten und Dokumentenmappen lagert noch jede Menge unerforschtes Material für künftige Doktorarbeiten. Spode hofft, dafür eines Tages eine Forschungsstelle zu bekommen. Denn auch wenn am "Willy-Scharnow-Institut" niemand mehr "Tourismusmanagement und Regionale Tourismusplanung" studieren kann - das Archiv im Keller bleibt ein Schatz, der viel zu schade ist, um in einem Tourismusmuseum zu verstauben. "Schließlich", sagt Spode und schließt die Schatzkammer hinter sich ab, "ist der Tourismus inzwischen eine globale Tatsache und ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor. So ein Forschungsgebiet zu ignorieren, wäre alles andere als exzellent."

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