Debatte Wirtschaftskrise: Was wollen wir vom Staat?

Die Mehrheit der Bundesbürger fordert jetzt, die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen. Das Problem dabei: Sie glaubt nicht, dass die Politik die Wirtschaftskrise beheben kann

hat sich in den Politikwissenschaften habilitiert. Ihre Schwerpunkte liegen bei der Staats-und Demokratietheorie. Derzeit vertritt sie die Professur für Regierungslehre an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Da hat man über Jahrzehnte der Verstaatlichung jedwede Absage erteilt, die man einer gesellschaftlichen Vision nur zukommen lassen kann. Dem Staat wurde nicht nur jegliche Wirtschaftskompetenz abgesprochen, sondern zunehmend auch die politische Gestaltungsfähigkeit bestritten. Doch gerade erleben wir die Wiederentdeckung des Staates und der Verstaatlichungsidee in einem atemberaubenden Gestus der Selbstverständlichkeit.

Noch 2007 hatte die Bundeskanzlerin in einem Interview mit dem Handelsblatt gefordert, dass der Staat innerhalb der EU weniger Einfluss auf die Wirtschaft nehmen solle. Nun verlangt sie so kämpferisch wie naiv auf der Website der Bundesregierung, dass es weltweit keine unkontrollierten Märkte, Marktteilnehmer und Produkte mehr geben dürfe. Selbst die Ultima Ratio einer Verstaatlichung schließt sie nicht länger aus.

Verstaatlichung ist möglich, kein Zweifel. Artikel 15 des Grundgesetzes eröffnet unter der Überschrift "Sozialisierung" die Möglichkeit, "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft" zu überführen. Jedoch war Artikel 15 niemals als Instrument einer umfassenden Vergesellschaftung von Produktionsmitteln gedacht, geschweige denn als ein Mittel, den Kapitalismus zum Sozialismus zu transformieren. Nach Auffassung des Parlamentarischen Rates sollte er lediglich die Möglichkeit schaffen, Kohle- oder Energieunternehmen in Rechtsformen zu überführen, die unter beherrschendem Einfluss des Bundes stehen.

Genau jener Artikel 15 offenbart den wirtschaftlichen Grundkonsens der frühen Bundesrepublik. Die 1946 im Ahlener Programm dokumentierte, kurzzeitig aufflammende Sozialisierungslust der nordrhein-westfälischen CDU zähmte Adenauer alsbald durch das Programm der sozialen Marktwirtschaft. Die SPD brauchte noch einen Moment der Besinnung und schlechte Wahlergebnisse, bevor auch sie 1959 ihrem Godesberger Programm das Bekenntnis zu freiem Wettbewerb und Unternehmertum als Grundlagen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik einschrieb.

Die dazwischenliegenden Jahre nutzte die CDU, um mit den erfolgreich stigmatisierten Begriffen "Sozialisierung" und "Verstaatlichung" der SPD weitreichende Enteignungsabsichten zu unterstellen. Die SPD ihrerseits reformulierte in semantischen Rückzugsgefechten ihre Sozialisierungsideen als "Gemeineigentum" und "öffentliche Kontrolle". Die fortschreitende Überführung von Produktionsmitteln in das Volkseigentum der DDR tat das Übrige, um ernsthafte Sozialisierungsideen im Westen zu diskreditieren.

Trotz mangelnder Vergesellschaftungsvorhaben war Artikel 15 weder überflüssig noch wertlos. Bemerkenswerterweise fand er seinen Einsatz insbesondere bei der rechtlichen Absicherung des gegenteiligen Projektes, der Privatisierung. So urteilte das Bundesverfassungsgericht bereits 1961 in einer Klage gegen die Privatisierung von Volkswagen, dass Artikel 15 eine Sozialisierung zwar ermögliche, aber nicht erzwinge. Weil das Grundgesetz keine Wirtschaftsform vorschreibe, stünde auch einer Privatisierung nichts im Wege. Die Organe des Bundes seien lediglich verpflichtet, bei einer Veräußerung staatlichen Vermögens einen angemessenen Preis anzustreben. Diese Festlegung ist weich genug, um die Veräußerung von Tafelsilber auch in schlechten Marktzeiten zu ermöglichen. Alles in allem mutierte Artikel 15 so unter der Hand von einem Sozialisierungs- zu einem Privatisierungsartikel. Bis die Finanzkrise kam.

Hier fängt das eigentliche Wunder an. Beim schnellen Umlernen stehen die Bundesbürger ihrer Kanzlerin in nichts nach. Im September dieses Jahres wollten noch 68 Prozent der Bundesbürger alle marktlichen Möglichkeiten nutzen und einen schlechten Service von Dienstleistern mit einem Anbieterwechsel quittieren. Einen Monat später sind laut infratest dimap 67 Prozent der Bundesbürger für eine Teil- oder Vollverstaatlichung der Banken. Forsa hat herausgefunden, dass 77 Prozent der Bundesbürger die Energiewirtschaft, 60 Prozent die Fluglinien, Bahn und Post, 40 Prozent die Landwirtschaft und auch die Telekommunikation verstaatlichen wollen. Und ein gutes Viertel der Bundesbürger möchte auch seine Autos lieber von einem Staatskonzern kaufen. Von einem eigenen Staatskonzern, wohlgemerkt, denn in dieser Umfrage geht es um die Frage, ob man es für sinnvoll halte, die heimische Industrie durch Verstaatlichung dem Zugriff ausländischer Investoren zu entziehen.

Damit soll das wiederentdeckte Instrument der Verstaatlichung gleich zwei Heuschrecken in die Flucht treiben: den ausländischen Investor und den deutschen (Bank-)Manager, der es mit seiner Bereicherungswut ein wenig zu weit getrieben und uns diese böse Krise beschert hat. Die weitestreichende Hoffnung zielt darauf, gleich der eigentlichen Brutstätte aller Heuschrecken, dem Neoliberalismus, den Garaus zu machen.

Auf welch tönernen Füßen die neue Staatsgläubigkeit indessen steht, beweist eine weitere Untersuchung: 56 Prozent der Bundesbürger sind nämlich der Ansicht, dass die Regierung die aktuelle Rezession gar nicht beheben kann. Wie aber soll der Staat uns retten, wenn die Regierung es nicht richten kann?

In puncto Unausgegorenheit steht nun wieder die Regierung der Bevölkerung nicht nach. Weder Konsumgutscheine noch gigantische Bürgschaften zeugen von einem tragfähigen Verstaatlichungskonzept. Sie spiegeln lediglich den enormen Vertrauensverlust und die Panik. Und zeigen, dass die Krise nicht nur Chancen birgt, wie die Kanzlerin gern betont, sondern vor allem erst mal eine Krise ist. Was Verstaatlichung genau heißt, bleibt so unklar wie Erbsensuppe.

Und wer schließlich in diesem Wort die Verheißung sehen möchte, dass der Kampf gegen den Neoliberalismus schon fast gewonnen sei, der muss sich fragen lassen, wie man auf diese Idee kommen kann. Neoliberalismus ist nicht nur Deregulierung, gegen die sich der neue Regulierer Staat nun im Handstreich durchsetzen könnte, selbst wenn er wollte, was noch dahingestellt ist. Mehr noch ist die neoliberale "Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner"-Logik von der Wiege bis zur Bahre in die Handlungslogiken der Individuen eingeschrieben worden; hieran würde auch die Verstaatlichung von Opel nichts ändern.

Was also heißt Verstaatlichung? Im Moment nicht mehr, als dass der Staat nun retten soll, was der Markt vergeigt hat. Dies kann nicht überraschen. Das war nämlich immer so, wenn der Markt versagte. Ein wenig rufen reicht also nicht: Wenn die Chance der Krise wirklich genutzt werden soll, dann dadurch, das allseits ambivalente Verhältnis zum Staat gründlich zu überdenken. Den brauchen wir nämlich nicht nur dann, wenn der Markt gerade mal wieder versagt.

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