Türkische Schriftsteller über ihr Land: Unterwäsche erzählt vom Fortschritt

Zwischen sexueller Liberalisierung, Gewalt der Tradition und neuer Sichtbarkeit eines konservativen Islam: In welche Richtung bewegt sich die Türkei?

Nachtleben in Istanbul: Männlicher Bauchtanz. Bild: reuters

"In drei bis vier Jahren wird es in der Türkei keine Ehrenmorde mehr geben", gibt sich Perihan Magden optimistisch. Die spitzzüngige Autorin ist für ihre sarkastischen Kommentare berüchtigt, mit denen sie im Intellektuellenblatt Radikal eine viel gelesene Kolumne füllt. Doch mit dieser Prognose ist es ihr ernst. "Das gesellschaftliche Klima in der Türkei hat sich stark verändert. Früher haben die Zeitungen es ignoriert, wenn so etwas passierte. Aber jetzt sind die Medien voll davon, es wird skandalisiert und allgemein verurteilt."

Als Feministin ist Perihan Magden weit davon entfernt, diese Verbrechen zu bagatellisieren: "Es ist so eine eklige Tat. Ich muss kotzen, wenn ich nur daran denke", sagt sie. "Das Schreckliche ist, dass es oft die Mütter sind, die ihre jungen Söhne dazu ermuntern, ihre Schwester umzubringen. Also Frauen gegen Frauen." Aber, schränkt sie ein, es käme fast nur im Südosten der Türkei dazu. "Früher hatten die Täter kein Schuldbewusstsein, aber jetzt findet ein Mentalitätswandel statt. Dahinter führt kein Weg mehr zurück."

In welche Richtung bewegt sich die Türkei? Hin- und hergerissen zwischen Liberalisierung, pluralen Lebensstilen, der Gewalt der Tradition und einem neuen Konservatismus, der in islamischen Gewändern daher kommt? Schriftsteller sind gute Seismografen, und Perihan Magden eine äußerst kritische Beobachterin ihres Landes.

Ihr rasanter Großstadtroman "Zwei Mädchen", vom schwulen Kultregisseur Kutlug Ataman verfilmt und kürzlich auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen, bewegt sich zwischen Popliteratur und Pulp Fiction und wirft einen kühlen Blick auf die Generation, der ihre eigene Teenagertochter angehört. "Es geht um weibliche Wut", erklärt Perihan Magden.

"Meine Botschaft war: Wenn du Leute unterdrückst, schlagen sie zurück." Darüber hinaus rechnet sie in "Zwei Mädchen" mit Konsumismus, Markenwahn und den auf Äußerlichkeiten aufgebauten Lebenslügen der Mittelschicht Istanbuls mit einer Wucht ab, die an Bret Easton Ellis erinnert.

Steigende Scheidungsraten

Dabei sieht sie durchaus gesellschaftliche Fortschritte. "In der Gymnasialklasse meiner Tochter haben heute fast die Hälfte der Schüler geschiedene Eltern. Zeitversetzt zum Westen hat auch in der Türkei eine sexuelle Befreiung stattgefunden - bedingt durch die starke Entpolitisierung nach dem Putsch von 1980.

Sogar die Fundamentalisten sind heute in sexueller Hinsicht viel liberaler, als sie sich geben", glaubt sie. "Jedenfalls verkauft sich freizügige Unterwäsche in den konservativsten Stadtvierteln von Istanbul besonders gut."

Und wie passt das mit dem Kopftuch zusammen? "Keine Ahnung, das müssen sie die fragen. Aber diese Mädchen, die Kopftücher tragen, waren früher in armen Verhältnissen eingeschlossen. Heute wollen sie arbeiten oder studieren, das ist ein sozialer Fortschritt! Aber die dummen Kemalisten wollen diese Leute lieber weiterhin als Putzfrauen oder als Bauern auf dem Feld sehen", sagt Perihan Magden.

Ihr Zorn richtet sich gegen die türkischen Eliten, die sich in bornierter Selbstgerechtigkeit eingerichtet haben. Und gegen das Militär, das den Kurdenkonflikt ausbeutet, um seine Macht und Vorrangstellung nicht zu verlieren. Deshalb hat sie in ihrer Kolumne sogar zur Wahl der Kurdenpartei aufgefordert. Aber auch die Europäer kommen nicht ungeschoren davon. "Natürlich ist die EU ein Christenklub. Sie nehmen Bulgarien auf. Aber weil die Türken Muslime sind, bekommen sie eine Art Allergie", sagt sie.

Nur auf die Regierungspartei AKP ist sie milde zu sprechen, obwohl diese als islamisch-konservativ gilt. "Ich würde sie gern schärfer kritisieren", gesteht Perihan Magden. "Aber sie ist derzeit unsere einzige Chance auf mehr Demokratie. Im Grunde geht es ihr nur darum, dass ihre Leute reich werden.

Aber es ist einfach, den Leuten mit dem Islam Angst zu machen", ärgert sich Magden. "Und das kemalistische Regime in der Türkei ist auf Angst aufgebaut. Früher war es die Angst vor dem Kommunismus. Heute ist es die Angst, dass wir zum zweiten Iran werden. Aber das wird nie passieren, denn wir waren nie allzu ernst im Umgang mit der Religion."

Schwul in Istanbul

Von Islamisierungsängsten scheint auf den ersten Blick "Tschador" zu handeln, der Roman des schwulen und flamboyanten Starautors Murathan Mungan aus Istanbul. Er erzählt von einem Mann, der aus dem Exil in ein vom Bürgerkrieg zerstörtes und in einen islamischen Gottesstaat verwandeltes Land zurückkehrt, das an das Afghanistan unter den Taliban gemahnt.

Auf der Suche nach seiner Frau irrt er ziellos umher, bis er sich am Ende selbst in ein namenloses Gespenst unter einer Burka verwandelt. Mit seiner apokalyptischen Story und seiner spröden, opulenten und bedeutungsschweren Sprache lässt "Tschador" an Christian Kracht denken. Aber glaubt Murathan Mungan wirklich, dass die Türkei ein Gottesstaat werden könnte? Nein, darum sei es ihm gar nicht gegangen, wehrt Mungan ab - und fragt zurück, warum ihm diese Frage eigentlich immer wieder gestellt werde?

Ein wenig blasiert gibt sich Murathan Mungan gern, aber im Gespräch taut er schnell auf. Es sei eine literarische Fantasie, zu der ihn die Geschehnisse in den Nachbarländern der Türkei inspiriert hätten, gibt er zu. Über Tagespolitik möchte er aber nicht reden, nur so viel: Die AKP in der Türkei sei keine homogene Partei, sondern ein Bündnis verschiedener Gruppen. Das eigentliche Problem der Türkei sei, dass es an einer echten linken Alternative fehle.

Als Sohn kurdischer Eltern im südostanatolischen Mardin aufgewachsen, einer aramäisch-christlich geprägten Stadt, von der aus man ins mesopotamische Tiefland fast bis nach Syrien blicken kann, hat Mungan erst spät Türkisch gelernt. Doch heute, mit 53, ist er einer der populärsten Autoren des Landes, der auch Texte für Popsongs schreibt und selbst eine Art Popstar ist.

Er bemüht gern blumige Metaphern, die im Deutschen etwas kitschig klingen: "Die Kindheit ist wie ein Himmel, der sich über einem erstreckt." Und er betont, dass er aus der kulturellen Vielfalt des untergegangenen Osmanenreichs schöpfe.

Aber jetzt lebe er in Istanbul, blicke von dort auf die Welt und sei ein "fanatischer Fan" von Rammstein, den Toten Hosen und Depeche Mode. Mit dem Scharia-Islam kann er nicht viel anfangen - außer dass er auch gern vier Männer heiraten würde, witzelt er. Ansonsten aber es sei falsch, zu glauben, Istanbul sei die Türkei. "Istanbul ist ein eigenes Land", meint er.

Tabus hinterfragen

"Da muss ich widersprechen", sagt seine Kollegin Elif Shafak. "Natürlich ist Istanbul einmalig. Aber es ist ein guter Ort, um die Türkei zu verstehen, denn die Menschen dort kommen aus dem ganzen Land." Diese Vielfalt und wie es gelingen kann, trotz gravierender Unterschiede zusammen zu leben - dieses Thema zieht sich durch die Romane der Schriftstellerin - so auch durch "Bonbonpalast", erst jüngst ins Deutsche übersetzt, der sich um ein altes Wohnhaus in Istanbul und dessen skurrile Bewohner dreht.

Im Stil des "magischen Realismus" mischen sich Legenden und Realität, Aberglaube und Wahrheit. In der Politik mag das ein Problem sein - im Alltag sieht Elif Shafak das als Bereicherung an. "Das Leben ist eben nicht nur rational, logisch und mechanisch."

Im Gegensatz zu den meisten ihrer türkischen Schriftstellerkollegen hat sie sogar ein betont positives Verhältnis zur Religion - vor allem zur islamischen Sufimystik, mit der sie sich schon während ihres Studiums zu beschäftigen begann. Obschon als Diplomatentochter säkular aufgezogen, ist ihr der türkische Volksislam durch ihre Großmutter gut vertraut.

"Als junges Mädchen habe ich gelernt, dass nicht alle gebildeten Frauen emanzipiert sind - und, durch meine Großmutter, dass nicht alle Frauen, die ein Kopftuch tragen, unterdrückt werden. Solche Verallgemeinerungen blockieren unsere Wahrnehmung", sagt sie.

Bei diesem Thema kann Elif Shafak sehr bestimmt werden: "Viele meiner Leserinnen tragen ein Kopftuch, das weiß ich von meinen Lesungen und Signierstunden. In meinen Büchern stelle ich Geschlechterverhältnisse und sexuelle Tabus in Frage. Wenn sie damit kein Problem haben - warum sollte ich mit ihnen ein Problem haben?", fragt sie.

Das meint sie auch mit Blick auf Europa, das sich mit seinen Muslimen so schwer tut. "Wir müssen diese mentalen Grenzen von ,uns' und ,ihnen' auflösen. Das sind sehr gefährliche Kategorien. Darum glaube ich: Wenn die Türkei der EU beitritt, dann ist das nicht nur gut für die Türkei. Sondern auch für Europa."

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