Der EuGH und das (un)soziale Europa: "Kritik ist nicht berechtigt"

Für die Gewerkschaften ist die Sache klar. Mit verschiedenen Urteilen befördere der Europäische Gerichtshof (EuGH) Dumpinglöhne. Erstmals bezieht nun der EuGH-Richter Thomas von Danwitz Stellung.

Polen stechen für Dumpinglöhne Spargel, der zu Dumpingpreisen verkauft wird. Bild: dpa

THOMAS VON DANWITZ, 46, ist der einzige Deutsche unter den 27 Richtern des EuGHs in Luxemburg. An den drei Urteilen war er nicht beteiligt.

Zwischen Helsinki (Finnland) und Talinn (Estland) verkehrt die Fähre Rosella, die der finnischen Firma Viking gehört. Weil estnische Konkurrenzfähren billiger waren, wollte Viking, dass Rosella unter estnischer Flagge mit estnischen Seeleuten fährt. Die Gewerkschaft der finnischen Seeleute wollte dies verhindern und drohte mit Streik. Die internationale Transportarbeiter-Föderation ITF in London forderte die estnische Gewerkschaft auf, nicht mit Viking zu verhandeln. Der EuGH entschied Ende 2007: Die gewerkschaftlichen Maßnahmen seien ein Eingriff in das Recht von Viking, sich in einem anderen EU-Staat niederzulassen. Die Kampfmaßnahmen könnten gerechtfertigt sein, wenn sie im Interesse der Arbeitnehmer nötig sind. Ob Streiks gegen Viking zulässig waren, müssen nun Gerichte in Finnland und England entscheiden.

Das lettische Bauunternehmen Laval erhielt den Auftrag, in Schweden eine Schule zu renovieren. Laval wollte lettische Bauarbeiter beschäftigen. Schwedische Gewerkschaften versuchten zu erzwingen, dass Laval dabei schwedische Löhne bezahlt, und blockierten Lavals Baustellen, was nach schwedischem Recht erlaubt war. Der Europäische Gerichtshof entschied Ende 2007, dass die Boykottmaßnahmen gegen die EU-Entsenderichtlinie verstießen. Danach kann von ausländischen Baufirmen nur die Beachtung von Mindestlöhnen oder allgemein verbindlichen Tarifverträgen verlangt werden. Die Durchsetzung von Tarifverträgen, die nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten, sei in der Entsenderichtlinie nicht vorgesehen. In Deutschland sind gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen gegen ausländische Firmen verboten.

In Niedersachen galt bei größeren Aufträgen des Landes bisher eine Tariflohnklausel. Wer den Auftrag haben wollte, musste sich verpflichten, seinen Beschäftigten Tariflohn zu zahlen - auch wenn die Firma nicht tarifgebunden war. Der EuGH erklärte im April 2008 derartige Tariflohnklauseln für unzulässig, weil sie nicht in der EU-Entsenderichtlinie vorgesehen sind. Nach dieser dürfe von ausländischen Baufirmen nur die Einhaltung von Mindestlöhnen oder von allgemein verbindlichen Tarifverträgen verlangt werden. Seither kann das Land Niedersachsen bei öffentlichen Aufträgen nicht mehr die Bezahlung des Bau-Tariflohns verlangen, der für Gewerkschaftsmitglieder 15,24 Euro pro Stunde vorsieht, sondern nur noch den allgemein verbindlichen Bau-Mindestlohn von 12,50 Euro. Betroffen sind sechs weitere Bundesländer.

taz: Herr von Danwitz, was ist für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) wichtiger, die Freiheit der Unternehmer im Binnenmarkt oder die sozialen Rechte der Beschäftigten?

Thomas von Danwitz: Da gibt es keine Rangfolge. In den EU-Verträgen ist beides stark verankert.

Gewerkschafter haben den Eindruck, der EuGH führe so etwas wie ein "Grundrecht auf ungestörtes Sozialdumping" ein.

Das stimmt natürlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der EU-Gerichtshof je die sozialen Aspekte der Integration vernachlässigen würde - schon wegen der Akzeptanz seiner Urteile in der Bevölkerung.

Hat der EuGH zuletzt nicht bei einigen Urteilen das Recht der Unternehmen, sich mit Billigangeboten neue Märkte in anderen EU-Staaten zu erschließen, besonders hoch bewertet?

Wenn man die Urteile genau ansieht, erkennt man, dass es keine derart einseitige Linie gibt. Nehmen wir das Viking-Urteil (siehe Spalte), das in meinen Augen die grundsätzlichste Bedeutung hat. Hier wurde klar das Streikrecht der Gewerkschaften als Grundrecht anerkannt. Zwar werden Streiks als potenzieller Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten der Unternehmen eingestuft, laut EuGH sind Streiks aber grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie für die Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen notwendig sind.

Und jetzt soll ein EU-Gericht entscheiden, wann ein Streik notwendig ist?

Eben nicht. Im Viking-Urteil hat der EuGH die Prüfung der Verhältnismäßigkeit den Gerichten der Mitgliedstaaten überlassen. Nur vor Ort sind die Informationen für eine derartige Prüfung vorhanden.

Ist es nicht unüblich, einen Streik auf seine Verhältnismäßigkeit zu kontrollieren?

Nein. Das ist auch in Deutschland gängige Praxis. Nehmen Sie den Lokführerstreik im letzten Jahr. Da wurde vor Gericht auch die Verhältnismäßigkeit geprüft, mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen.

Wir haben bis jetzt nur über das Viking-Urteil gesprochen. Warum halten Sie die Urteile Laval und Rüffert für weniger wichtig?

Viking war das erste Urteil, bei dem der Gerichtshof zum Verhältnis von Streikrecht und den Grundfreiheiten der Unternehmen Stellung nimmt. Laval und Rüffert sind dagegen keine Leitentscheidungen. Hier ging es vielmehr um die Auslegung der Entsenderichtlinie von 1996. Dabei lag also schon ein politischer Kompromiss vor, den der EuGH beachten und umsetzen musste.

Worin besteht der Kompromiss der Entsenderichtlinie?

Es ist ein Interessenausgleich zwischen den neuen und den alten EU-Staaten. Die neuen EU-Staaten erhalten mit ihren Dienstleistungen, insbesondere im Bausektor, Zugang zu den Märkten der alten EU-Staaten und können dabei ihre günstigen Lohnkosten nutzen. Um den sozialen Frieden zu sichern, können aber die alten EU-Staaten die Einhaltung von Mindestlöhnen und allgemein verbindlichen Tarifverträgen verlangen.

Und warum kann dann in Deutschland bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nicht verlangt werden, dass Tariflöhne zu zahlen sind?

Es entspricht nicht dem Sinn und Zweck der Entsenderichtlinie, wenn der freie Marktzugang von den Gastländern nach Belieben wieder eingeschränkt werden kann. Die Tarifklausel in den deutschen Vergabegesetzen ist ein Instrument, das in der Entsenderichtlinie schlicht nicht vorgesehen ist, deshalb ist sie unzulässig. Normale Tariflöhne gelten eben nur für Gewerkschaftsmitglieder und nicht für jedermann - wie etwa ein Mindestlohn oder ein allgemein verbindlicher Tariflohn.

Die Tarifklausel dient doch aber einem wichtigen Zweck der Richtlinie: der Erhaltung des sozialen Friedens …

Das sieht nicht jeder so. Das Oberlandesgericht Celle, das uns den Fall Rüffert zur Entscheidung vorgelegt hat, vermutete etwa, die Tarifklausel diene eher dem Schutz der heimischen Bauindustrie. Entscheidend ist aber, dass die Entsenderichtlinie ein Kompromiss ist, der hinterher nicht einfach unter Berufung auf bestimmte Interessen wieder infrage gestellt werden kann. Wenn ich mit Kollegen aus Ungarn oder Polen spreche, dann ist aus ihrer Sicht der Marktzugang jedenfalls sehr wichtig.

In der Entsenderichtlinie heißt es aber auch, sie stehe der "Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen". Der unabhängige Generalanwalt Yves Bot hat deshalb in seinem Schlussgutachten die deutschen Tarifklauseln für zulässig erklärt. Warum kam der EuGH zu einem anderen Ergebnis?

Die Auslegung dieser Bestimmung war tatsächlich der entscheidende Punkt in den Urteilen Laval und Rüffert. Der EuGH hat den Satz aber ganz anders ausgelegt als der Generalanwalt: Er gebe nicht den alten EU-Staaten neue Handlungsmöglichkeiten, sondern solle nur sicherstellen, dass ein entsandter Arbeitnehmer keine Nachteile hat, wenn er in seinem Heimatland bessere Arbeitsbedingungen hatte als im Gastland. Dies könnte zum Beispiel relevant sein, wenn ein deutscher Bauarbeiter in Osteuropa arbeitet.

Sie können die heftige Kritik, die Gewerkschaften und linke Parteien am Rüffert-Urteil üben, also nicht verstehen?

Ich halte sie nicht für berechtigt. Wenn ein Staat die Möglichkeiten der Richtlinie nutzen will, kann er doch weiterhin Mindestlöhne einführen oder Tarifverträge für allgemein verbindlich erklären. Man sollte nicht den EuGH kritisieren, nur weil man in Deutschland mit diesen Möglichkeiten unzufrieden ist.

Eine Tarifklausel für öffentliche Aufträge beschränkt den Marktzugang weniger radikal als ein gesetzlicher Mindestlohn. Hat der EuGH das nicht bedacht?

Die Entsenderichtlinie sieht nun mal kein Sonderrecht für den öffentlichen Sektor vor. Wenn die EU-Politiker im Ministerrat und im Europäischen Parlament meinen, dass eine Tarifklausel sinnvoll wäre, dann müssen sie die EU-Entsenderichtlinie ändern.

Es gibt aber auch eine Vergaberichtlinie der EU, und die sieht jetzt schon vor, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auch auf soziale und ökologische Aspekte geachtet werden darf. Hätte der EuGH dies nicht berücksichtigen müssen?

Der Hinweis auf soziale und ökologische Aspekte bei der öffentlichen Auftragsvergabe ist eine Ausnahmeklausel, die wie alle Ausnahmeklauseln eng auszulegen ist. Ich fände es nicht überzeugend, mit ihr die Systematik der Entsenderichtlinie auszuhebeln und den Marktzugang für die neuen EU-Länder infrage zu stellen.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH

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