Hartz IV-Empfänger als Sündenböcke: "Die Diffamierung macht mich wütend"

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider über die soziale Hängematte, die Methodik von Kampagnen gegen Sozialmissbrauch und das zerstörerische Potenzial von "Bild".

"Wer hier noch kürzen will, handelt verantwortungslos". Bild: dpa

taz: Herr Schneider, was ist eine soziale Hängematte?

Ulrich Schneider: Eine soziale Hängematte ist bequem, ich muss mich nicht anstrengen und werde von der Gemeinschaft sanft hin und her gewogen.

Wer liegt darin?

In der Realität gibt es sie nicht, auch wenn Politiker zurzeit wieder davon reden. Sie wollen aber nicht die Realität beschreiben, sondern unseren Sozialstaat als etwas überzogenes und paradiesisches erscheinen lassen, das dringend korrigiert werden muss. Zum zweiten wollen sie diejenigen als Faulenzer diffamieren, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Deshalb gebrauchen Politiker dieses Bild.

Stimmt es nicht, dass der Missbrauch von Sozialleistungen den Staat Millionen kostet?

Es gibt Missbrauch. Letztes Jahr wurden über hunderttausend Fälle aufgedeckt. Natürlich darf das nicht sein, und deswegen wird es auch bestraft. Aber mit unter drei Prozent liegt die Quote relativ niedrig.

Reichen die Kontrollbefugnisse?

Die Kontrollmöglichkeiten sind mit der Einführung von Hartz IV enorm ausgeweitet worden. Bankdaten können eingesehen werden und die verschiedenen Behörden dürfen ihre Daten abgleichen, um festzustellen, ob Leistungsempfänger irgendwo Geld verdienen. Ich kenne keinen Fachpolitiker, dem noch Verschärfungen einfallen.

CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer verlangt mehr Härte bei Missbrauch, der Generalsekretär von Baden-Württembergs CDU, Thomas Strobl, will eine Pauschalierung der Hilfen im Energiebereich: "Es kann nicht angehen, dass für Hartz-IV-Empfänger Kohle, Gas und Öl faktisch in unbegrenzter Menge kostenlos zur Verfügung stehen."

Herr Strobl fordert die gegebene Gesetzeslage: Heizkosten werden voll übernommen, sofern sie angemessen sind. Um das zu beurteilen, bilden die Kommunen Pauschalen pro Quadratmeter Wohnfläche, das ist die gängige Praxis, und da wird eher abgerundet. Mit anderen Worten: Hier spricht ein völlig Ahnungsloser. Das ist typisch. Es wird gefordert, Hartz IV-Empfänger zu gemeinnützigen Tätigkeiten anzuhalten, obwohl das geschieht. Es wird verlangt, Leistungen zu streichen, wenn Menschen sich verweigern, obwohl es gängige Praxis ist.

Was empfinden Sie, wenn Sie die "Bild" aufschlagen und das Foto eines Hartz IV-Empfängers sehen, der vier Handys in die Kamera hält und verrät, wie er die Arbeitsagentur reinlegt?

Ich ärgere mich ungeheuer über den Mann. Solche Menschen sind daneben, aber ich finde es auch schlimm, dass Medien sie aufbauen. Was diese Menschen mit der Bild-Zeitung besorgen, ist eine übelste Diffamierung von in aller Regel sehr ehrlichen Hartz IV-Empfängern. Das macht mich wütend.

Weil es Ihre Forderung schwächt, Hartz IV zu erhöhen?

Natürlich, das wirkt unserer Lobbyarbeit massiv entgegen. Aber wenn manche Politiker und Medien solche Kampagnen führen, treiben sie auch einen Keil in die Gesellschaft. Das kann auf Dauer unser Gemeinwesen zerstören, weil dieses Land dringend auf mehr Solidarität angewiesen ist.

Sie wollen Hartz IV erhöht sehen. Jetzt haben zwei Professoren aus Chemnitz ausgerechnet, dass 351 Euro Regelsatz nicht nötig wären. 132 Euro würden ausreichen. Was sagen Sie dazu?

Wissenschaft erfährt ihren Elchtest in der Konfrontation mit dem Alltag. Was die Herrn Professoren aus Chemnitz da errechnet haben ist praktisch betrachtet einfach nur absurd.

Die Autoren der Studie sagen, bei der Kostenberechnung könnten vor allem Ausgaben für Kultur und Kommunikation viel niedriger veranschlagt werden als jetzt.

Sozialhilfe und Hartz IV haben nicht nur das Überleben, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe auf bescheidenem Niveau sicher zu stellen. Wer hier noch kürzen will, handelt verantwortungslos - insbesondere gegenüber unseren Kindern.

INTERVIEW: GEORG LÖWISCH

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