Kommentar Giegold-Wechsel: Raus aus der APO-Ecke

Attac-Mitgründer Giegold wird Grünen-Kandidat? Gut für beide Seiten - denn Attac drohte in der Bedeutungslosigkeit zu versinken und die Grünen sind nach drei Jahren Opposition noch immer arg angestaubt.

Sven Giegold wechselt die Seiten. Der Mitgründer von Attac Deutschland war jahrelang ein Wortführer der Globalisierungskritiker, jetzt will er für die Grünen ins Europäische Parlament einziehen. Dieser Wechsel ist der personalisierte Beleg für eine Entwicklung, die sich seit Jahren relativ unauffällig vollzieht: Attac als wichtigster Player der sozialen Bewegungen und etablierte Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften arbeiten längst gut zusammen. Und für beide Seiten ist dieser inhaltliche - und manchmal eben auch personelle - Austausch befruchtend.

Attac hat zum Beispiel derzeit ein Wahrnehmungsproblem. Themen, bei denen die Globalisierungskritiker früher tonangebend waren, sind heute Mainstream. Die EU fordert die Zerschlagung von Stromkonzernen, Bundespräsident Köhler bezeichnet die Finanzmärkte als Monster, und Bürgermeister überlegen, einst privatisierte Stadtwerke zurückzukaufen. Wen interessieren da noch Attac-Statements? Entsprechend dumm wäre es, beleidigt in der APO-Ecke zu schmollen. Im Gegenteil: Das Netzwerk muss sich Partner suchen, die an den Hebeln der Macht sitzen, es muss die institutionelle Offenheit für seine ureigenen Themen strategisch nutzen. Sonst versinkt es in der Bedeutungslosigkeit.

Umgekehrt profitieren auch Grüne, Linke, Gewerkschaften und andere Organisationen von den erwachsen gewordenen Überläufern und vom inhaltlichen Dialog. Wer den direkten Draht zu sozialen Bewegungen pflegt, kann früh zukunftsträchtige Themen aufgreifen - und wirbt bei politisch interessierten Jugendlichen für sich selbst. Denn anders als alle Parteien kann sich Attac über den Zulauf junger Leute freuen. Und schließlich können ungewöhnliche Ideen im Parteiendiskurs nicht schaden, der vor allem von Taktik, Sachzwängen und angeblicher Geschlossenheit geprägt ist.

Und neue Ideen brauchen die Grünen auch - inhaltlich wirken sie nach drei Jahren Opposition noch immer angestaubt. Doch allzu viel darf man sich von den Neuzugängen nicht erwarten. Wie sehr die Institutionen diejenigen prägen, die sie durchschreiten, haben die Grünen während der rot-grünen Regierungsjahre gezeigt.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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