Ein Bett in Berlin (Teil 5): Klein Vegas im Problemkiez

Wer im Hotel Estrel in Neukölln mit seinen 1.125 Betten absteigt, muss zu einem Kongress oder hat ein Rundumpaket mit Unterhaltungsshow gebucht. Eine tolle Mischung.

Es ist Sommer. Alle fahren in den Urlaub. Weg aus Berlin. Oder gerade dorthin. Denn längst ist Berlin zur Touristenstadt mutiert. Allein im Monat Mai übernachteten insgesamt 728.300 Gäste in Berliner Herbergen. Die taz hat sich ihnen angeschlossen - und eine ganze Reihe von Schlafplätzen in Berlin getestet. In unserer Serie "Ein Bett in Berlin" berichten wir den Sommer über von knarzenden (oder gar keinen) Betten, Massenunterkünften, Luxussuiten und den Menschen im Hotel.

Auf der Sonnenallee tost der Abendverkehr. Es ist heiß, die Tische vor den türkischen und arabischen Cafés sind gut besetzt. Übergewichtige Menschen in Trainingshosen schleppen Lidl-Tüten, junge Mädchen schieben Kinderwägen, Jungmänner blockieren laut telefonierend den Bürgersteig. Aus einer Eckkneipe schallt Schlagermusik. Da taucht am Horizont, hinter dem S-Bahnhof Sonnenallee, ein gläsernes Schlachtschiff auf. Als sei das Hochhaus mit dem spitzen Bug zwischen Schrotthändlern, Döner-Fabriken und Kleinindustrien auf Grund gelaufen. Ein paar Schritte durch die Drehtür - und schon betritt man eine andere Welt, einen anderen Stern: das Estrel Berlin.

Die Luft ist angenehm kühl, der Geräuschpegel niedrig, leise klimpert ein Klavier. Weich fällt das Sonnenlicht durch das Glasdach des Innenhofs, der im Presseheft "Piazza" genannt wird. Fünf Restaurants laden die Besucher zum Verweilen ein, von Thai bis gutbürgerlich. Das Hotel bietet außerdem drei Bars, einen Minimarkt, Autoverleih, Fitness-Bereich - aber vor allem: ein riesiges Tagungs- und Kongresszentrum sowie eine eigene Unterhaltungsshow im separaten "Festival Center". Keine Frage: Im Hotel Estrel kann man problemlos einen ganzen Tag verbringen, ohne vor die Tür zu gehen. Ein kleines Las Vegas, wenn auch ohne Spielhölle - mitten im Arme-Leute-Kiez.

Im Ristorante Portofino, dem an der Piazza gelegenen Italiener, sind die meisten Tische besetzt. Eine Kellnerin flitzt hin und her, Zeit für eine Auskunft hat sie aber doch. Ja, sie liebe ihre Arbeit. "Kellnerin ist mein Ding, und hier ganz besonders." Es folgt ein überzeugendes Bekenntnis zu den netten Kollegen sowie ein Loblied auf die Klugheit des Hotelgründers und -besitzers Ekkehard Streletzki. Das Estrel ausgerechnet in Neukölln zu bauen, sei einfach "genial" gewesen: "Draußen ist es nicht schön, da bleiben die Leute lieber hier drin." Sie würde es auch so machen, wenn sie hier Gast wäre.

Was sie zweifelsohne gerne wäre. Denn die junge Frau arbeitet nicht nur gerne im Estrel, sie findet es auch "sehr schön hier". Ihr begeisterter Blick schweift über die Piazza, wo Lichterketten an sieben Meter hohen Plastik-Ficus-Benjaminis blinken und die Gastronomien im Stile moderner Autobahnraststätten eingerichtet sind: in abenteuerlichen Farb- und Musterkombinationen, von denen Psychologen vermutlich einmal gesagt haben, sie förderten das Wohlbefinden.

Ziemlich bunt ist auch der Keramik-Springbrunnen im Zentrum der Piazza. Den ankommenden Hotelgästen gefällt er offensichtlich: Mehrere Reisegruppen fotografieren sich gegenseitig vor dem Kunstwerk. Doch trotz des Rummels fühlt sich die Kellnerin offenbar bemüßigt, etwas zur Auslastung des 1.125-Zimmer-Hauses zu sagen. Es ist nämlich gerade "Sommerloch", also gibt es keine Kongresse und Firmentreffen, die sonst einen Großteil des Geschäfts ausmachten. Stattdessen kommen mehr Reisegruppen, und die buchten oft das Komplettprogramm: Halbpension, Show, vielleicht noch die Bootsfahrt vom hoteleigenen Schiffsanleger aus. Dass diese Gruppenreisen vor allem von älteren Menschen gemacht werden, findet die glückliche Kellnerin ebenfalls "schön. Ist doch nett, dass die mal rauskommen."

Genau das Richtige für die älteren Semester ist das Beatles-Musical am Abend im Festival Center. Die Cover-Band sieht den Beatles einigermaßen ähnlich, kann die Songs fehlerlos spielen und rasend schnell die Kostüme wechseln. Schon nach zwei, drei Liedern hat die Band die knapp 800 Zuschauer, darunter auch einige unter 50-Jährige, im Griff: Es wird mitgesungen und im Takt geklatscht, was das Zeug hält.

Auch der Damenclub am runden Tisch links vom Mittelgang kommt in Schwung: Dauergewellte Haarsträhnen wippen, pralle Brüste wogen unter engen Spaghettiträger-Hemdchen zu "She loves you", rot bemalte Lippen formen Liedzeilen. Die sechs Frauen zwischen 50 und 60 sind Teil einer 50-köpfigen Reisegruppe aus Israel und restlos begeistert - von der Musik, von Berlin, von Deutschland überhaupt. Eine Woche haben sie Zeit für ihre Städtetour, erzählt Anna Shayovich. Am besten gefällt ihr natürlich Berlin.

Auch der Showabend im Estrel ist eine "tolle Überraschung" ihres Reiseveranstalters, findet die 53-Jährige. Die Tochter ihres Mannes aus erster Ehe sei nämlich Sängerin und habe gerade in Tel Aviv bei einem Beatles-Musical mitgemacht - unter der Leitung von Beatles-Produzent George Martin. "George Martin!", wiederholt Anna Shayovich mehrmals, als könne sie es selbst kaum glauben.

Sie wendet sich wieder Richtung Bühne. Und fügt nach einer Pause hinzu: "Wussten Sie, dass die echten Beatles nie in Israel spielen durften? Die Regierung hatte Angst um die Jugend." Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Ihre lackierten Nägel klopfen den Takt zu "Cant buy me love".

Nach dem Ende der Show gegen 23 Uhr beginnt der gemütliche Teil der Nacht. Am Tresen der Atrium-Bar mitten auf der Piazza sitzt Georg Christian Muhs bei Pils und Birnenschnaps. Der 53-jährige Geschäftsmann ist Stammgast, übernachtet zweimal die Woche im Estrel, weil seine Berliner Niederlassung in der Nähe liegt. "Es ist ein nettes Hotel, vor allem wegen dem netten Bedienungspersonal." Hier kann er sich wohl fühlen und entspannen nach einem langen Tag harter Arbeit. Muhs findet aber auch: "Das Estrel ist eine Insel im Problemkiez." Seine Mitarbeiter fühlten sich unwohl, wenn sie ihn hier besuchen müssten. "Für sie ist Neukölln ein Angstbezirk, und sie sind froh, wenn sie endlich drin sind im Hotel."

Zwischenbilanz vor dem Schlafengehen: In diesem Haus sind offenbar alle froh. Wer ins Estrel kommt, hat keine Probleme oder lässt sie draußen vor der Tür.

Die erste Begegnung am nächsten Morgen bestätigt das: Nicht einmal die Putzfrau hat etwas zu meckern, die die 50-Quadratmeter-Suite der Reporterin putzen muss - Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein Bad, das größer ist als bei manchen Leuten die Küche. 20 bis 30 Minuten braucht sie zur Reinigung eines Zimmers, erzählt sie. Dafür bekommt sie 2,56 Euro. Je mehr Dreck ein Gast hinterlässt, desto geringer ist also ihr Stundenlohn. "Aber ich mache das jetzt schon drei Jahre und ich bin sehr zufrieden", sagt die mollige Endzwanzigerin mit Berliner Schnauze.

Sehr zufrieden ist auch Mihaela Djuranovic. Die Pressesprecherin des Estrel führt den Besuch zum Abschluss durch die "Präsidentensuite" im 18. Stock, die mit den Antiquitäten des Hotelbesitzers Streletzki eingerichtet ist. Ein echter Staatspräsident hat hier bislang zwar nicht genächtigt, gibt sie zu. Denn leider erfülle das Hotel nicht die Top-Sicherheitsanforderungen für hohe Staatsgäste. "Aber die Klinsmanns waren hier, mit Kindern, während der Fußball-WM." Und natürlich viele Firmen-Präsidenten.

Dann schwärmt Djuranovic vom wirtschaftlichen Erfolg von Europas größtem "Convention-, Entertainment- und Hotelkomplex". Der ist so überwältigend, dass das Kongresszentrum, nach nicht einmal zehn Jahren, ausgebaut werden soll. Djuranovic steht an einem der vielen Fenster der 250-Quadratmeter-Suite und zeigt auf ein leeres Grundstück auf der anderen Seite der Sonnenallee. Dort soll die neue Tagungsstätte hin. "Das Gelände hat Streletzki in weiser Voraussicht damals gleich mitgekauft", erklärt sie. Doch bei allem Erfolg, fährt sie fort, hat er "die Bodenhaftung nie verloren". Von Zeit zu Zeit besucht er sein Estrel "und spricht dann mit allen, vom Management bis zum Küchenpersonal".

Überhaupt scheint Streletzki ein famoser Kerl zu sein: Vor ein paar Jahren, erzählt Djuranovic, hat er 40 jungen russischen Künstlern ein Stipendium in Berlin spendiert. Jetzt hängen über 2.000 Kunstwerke im ganzen Hotel, in den Zimmern, auf den Gängen. Und, fährt die Pressesprecherin fort, der Hotelbesitzer bedenkt auch immer wieder soziale Einrichtungen in Neukölln mit großzügigen Spenden. Nicht umsonst habe er 2005 das Verdienstkreuz am Bande verliehen bekommen.

Dann ist es Zeit, die Trauminsel zu verlassen. Jenseits der Drehtür brennt die Sonne. Der Kran des Schrottverwerters neben dem Hotel-Biergarten zieht quietschend seine Bahnen. Vom Kanal weht der süßliche Geruch von Fäulnis herüber. Zurück im Leben.

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