Debatte Türkei: Feindbild Islamisierung

Die Krise in der Türkei kann nur verstehen, wer den türkischen Linksnationalismus kennt. Dessen Allianz mit Faschisten und Militärs steht hinter der Ergenekon-Verschwörung.

"Türkischer Junge, türkisches Mädchen, bewahrt euer Türkentum!" Die Zeitschrift, auf deren Webseite sich diese markigen Worte finden, ist kein rechtsradikales Kampfblatt, sondern nennt sich Türkische Linke. Ihre Autoren wettern gegen den Ausverkauf der Türkei an die EU und die USA. Sie hetzen gegen nationale und religiöse Minderheiten und denunzieren ihre Kritiker als "vaterlandslose Gesellen". Als Vorbilder verehren sie Atatürk, Che Guevara und Deniz Gezmis, einen linksradikalen Studenten, der 1973 wegen der Entführung von US-Soldaten hingerichtet wurde. Al-Qaida und Saddam Hussein preisen sie als Vorkämpfer der Dritten Welt. Vehement fordern sie den Sturz der Regierung Erdogan durch das Militär.

Die Macher dieses Blattes sind die radikalsten Vertreter einer politischen Strömung, die man kennen sollte, will man verstehen, was derzeit in der Türkei vor sich geht. Gemeint ist der türkische Linksnationalismus - ein Gemisch aus Staatsgläubigkeit, geopolitischen Sandkastenspielen, marxistisch gefärbter Rhetorik, aber auch offenem Rassismus gegen Kurden, Griechen, Armenier und Juden. Von diesem Ideologiemischmasch fühlt sich zwar nur ein kleiner Teil der türkischen Bevölkerung angesprochen. Aber dieser Teil gehört zur Elite. Bei Wahlen in Universitätsgremien und Anwaltskammern ist mit ihnen zu rechnen. Ihre Webseiten und Publikationen stammen oft aus Ferienorten an der Mittelmeerküste, die zwar nicht als Medienstandorte bekannt sind, wo sich aber viele pensionierte Offiziere und Ministerialbeamte niedergelassen haben. Prominenter Autor der Türkischen Linken ist etwa Yekta Güngör Özden, ein ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichts.

Auch an dem "Ergenekon"-Netzwerk, das jüngst aufgedeckt wurde, waren führende Linksnationalisten beteiligt. Zu den Chefideologen jener Verschwörer, die gegen Ministerpräsident Erdogan putschen wollten, zählt Dogu Perincek. Der Führer der türkischen "Arbeiterpartei", einer linksnationalistischen Politsekte, war einst ein führender Kopf der türkischen Achtundsechziger; in den Siebzigerjahren leitete er den legalen Zweig der türkischen Maoisten.

Im Unterschied zu den Achtundsechzigern im Westen betrachteten die in der Türkei nicht das Establishment als ihren Hauptgegner - sondern vielmehr die hemdsärmeligen Politiker der rechten Mitte, die auch von der Elite verachtet wurden. Über den Linkskemalismus der Zeitschrift Yön (Die Richtung) hatten diese studentischen Aktivisten zum Marxismus gefunden. Im Einklang mit dem elitären Selbstverständnis vieler Kemalisten beklagte Yön, dass die Türkei nach dem Militärputsch, der 1960 den konservativen Ministerpräsidenten Menderes zu Fall brachte, zum Mehrparteiensystem zurückgekehrt war. Denn nur die Elite sei ihrer Meinung nach geeignet, eine Gesellschaft der Dritten Welt zu führen, da die "ungebildeten Massen" sonst den "Lockrufen religiöser Verführer im Solde des Imperialismus" zu verfallen drohten. Als Todsünde der türkischen Nachkriegspolitik galt ihnen der Beitritt zur Nato. Eine konsequente Umsetzung kemalistischer Ideale - Säkularismus, Dritte-Welt-Nationalismus und zentrale Lenkung der Wirtschaft - erkannten sie vor allem im autoritären arabischen Nationalismus.

Weil sich diese Vorstellungen bei den heutigen Linksnationalisten wiederfinden, werden sie von ihren Gegnern gerne als "türkische Baathisten" verspottet - eine Anspielung auf die syrische und irakische Baath-Partei. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit mehrfach Verschwörungen von Offizieren und Intellektuellen, die das parlamentarische System der Türkei durch eine Einparteiendiktatur ersetzen wollten. Nachdem der letzte dieser Umsturzversuche im März 1971 aufflog, verloren Linke in der Armee auf Jahrzehnte hinaus an Bedeutung. Linksnationalisten wie Dogu Perincek haben mit dem Militär daher eigentlich keine guten Erfahrungen gemacht: Nach dem Putsch 1980 wurde er, wie viele andere linke Aktivisten auch, verhaftet und verurteilt.

Seine Liebe zur Armee entdeckte Perincek erst Mitte der Neunzigerjahre, als diese ihm nun als die einzige Kraft erschien, die der islamistischen Wohlfahrtspartei Einhalt gebieten könnte. Auch das Militär hatte sich mittlerweile verändert. Hatten die Generäle nach dem Putsch von 1980 unter dem Schlagwort der "türkisch-islamischen Synthese" noch selbst religiöse Kräfte gefördert, so schlossen viele aus dem Aufstieg der Wohlfahrtspartei sowie des vorgeblich apolitischen Predigers Fethullah Gülen, dass dadurch eine Entwicklung mit unkontrollierbarer Eigendynamik in Gang gesetzt worden war.

Auch außenpolitisch kam es zur Neuorientierung. Die amerikanische Unterstützung der Kurden im Nordirak befremdete die Generäle und verstärkte neutralistische Positionen im Militär. Noch mehr Widerwillen erregten die Bestrebungen türkischer Politiker für einen EU-Beitritt der Türkei, da dies die Rolle des Militärs schwächen und dem Sicherheitsapparat Zügel anlegen würde. In ihrer Klage über den Verlust nationaler Souveränität fanden sich diese Militärs nun plötzlich auf einer Wellenlänge mit linken Antiimperialisten wieder.

Aber nicht allein an das Militär näherten sich die Linksnationalisten an - ideologisch und organisatorisch tasteten sie sich auch an die rechtsextreme Nationale Aktionspartei (MHP) heran, die sich zudem von ihrem religiösen Flügel getrennt hatte. Der Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz, bekannt geworden durch seine Strafanzeigen gegen Orhan Pamuk, kommt "von rechts" - im Ergenekon-Netzwerk führte er Nationalisten unterschiedlicher Schattierung zusammen. Angeregt durch die rechten Ideologen, träumt auch die Türkische Linke von einem Großstaat Turan, der vom Balkan bis Korea reicht, während Dogu Perincek mit "Eurasien"-Fans und Putin-Unterstützern wie Alexander Dugin zusammenarbeitet und den Schulterschluss von Slawen und Turkvölkern propagiert.

Lieblingsfeinde der Linksnationalisten sind - neben der Regierung Erdogan - auffällig viele ehemalige Weggefährten aus Achtundsechziger-Zeiten. Denn ein Teil der ehemaligen Linksaktivisten ging den entgegengesetzten Weg, brach mit antiimperialistisch verbrämtem Nationalismus wie mit staatsfixierten Denken. Eng vernetzt mit europäischen Organisationen, setzen sie lieber auf die Stärkung der Zivilgesellschaft und treten dafür ein, die Vielfalt der Gesellschaft zu akzeptieren.

Dass in der Anklageschrift gegen die Ergenekon-Verschwörer nun vor allem nationalistische Publizisten und Akademiker ins Visier genommen, die Verdächtigen aus den Reihen des Militärs dagegen geschont werden, spricht für einen Deal zwischen Regierung und Armee. Glaubt man Gerüchten, dürfte auch das aktuelle Verbotsverfahren gegen die AKP nur mit einer Verwarnung enden. Für die Linksnationalisten ist das keine gute Nachricht. Für die liberalen Kräfte in der Türkei aber möglicherweise auch nicht.

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