Urteil zur Sitzverteilung im Bundestag: Überhangmandat verfassungswidrig

Die Berechnung von Überhangmandaten im Bundestag muss neu geregelt werden. Dass weniger Zweitstimmen einer Partei mehr Sitze bringen können, verstößt gegen die Verfassung, urteilte Karlsruhe.

In Dresden wurde das negative Stimmgewicht von den Wählern dazu genutzt, der CDU ein Überhangmandat zu sichern. Bild: dpa

KARLSRUHE ap Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechnung der Sitzverteilung bei Bundestagswahlen in einem wesentlichen Teil für grundgesetzwidrig erklärt. Die Verteilung der Überhangmandate muss nach der am Donnerstag in Karlsruhe verkündeten Entscheidung völlig neu geregelt werden. Die Richter des Zweiten Senats räumten dem Gesetzgeber dafür aber eine Frist bis Juni 2011 ein, so dass die nächste Bundestagswahl im kommenden Jahr noch ein letztes Mal nach dem bisherigen Wahlrecht stattfinden kann.

Mit dem Urteil hatte erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts die Wahlprüfungsbeschwerde von Bürgern in Karlsruhe Erfolg. Die Klage der beiden Beschwerdeführer aus Duisburg und Bremen richtete sich gegen das sogenannte negative Stimmgewicht, das zur Bundestagswahl 2005 bei einer Nachwahl in Dresden offenkundig geworden war. Bei dieser Nachwahl zwei Wochen nach dem eigentlichen Termin der Bundestagswahl hatte sich die CDU in Sachsen mit einem geringen Zweitstimmenanteil ein zusätzliches Überhangmandat gesichert.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher beanstandet, dass die bisherige Berechnung der Überhangmandate dazu führen kann, dass weniger Zweitstimmen für eine Partei mehr Sitze im Parlament bringen. Umgekehrt können mehr Zweitstimmen die Zahl der Mandate verringern.

Nach dem Urteil verstößt dieses negative Stimmgewicht gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ulrich Voßkuhle, sprach bei der Urteilsverkündung von einer "Paradoxie" des geltenden Wahlrechts.

Das Phänomen wurde bei der Nachwahl in Dresden, die wegen des Todes einer NPD-Wahlkreiskandidatin notwendig geworden war, im Herbst 2005 gezielt genutzt. Im dortigen Wahlkampf wurde darauf aufmerksam gemacht, dass weniger Zweitstimmen für die CDU ein Überhangmandat mehr bringen können. Die CDU erhielt daraufhin bei der Nachwahl tatsächlich weniger Zweitstimmen als sonst und sicherte sich ein zusätzliches Überhangmandat.

Derartige Überhangmandate, um die der Bundestag jeweils erweitert wird, fallen an, wenn Parteien in einem Bundesland mit den Erststimmen mehr Direktkandidaten durchbringen als ihnen nach dem eigentlich für die Sitzverteilung maßgeblichen Ergebnis der Zweitstimmen insgesamt zustehen. Indem sich die CDU das Direktmandat in dem Dresdner Wahlkreis mit den Erststimmen sicherte, zugleich aber relativ wenige Zweitstimmen bekam, konnte sie sich diesen Effekt zunutze machen, da ja das Ergebnis im übrigen Bundesgebiet zum Zeitpunkt der Nachwahl schon bekannt war.

Nach der Entscheidung der Verfassungsrichter ist es aber mit dem Grundgesetz unvereinbar, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei zu einem Verlust an Sitzen und umgekehrt ein Verlust an Zweitstimmen zu mehr Sitzen führen kann. Nach der Verfassung müsse der Erfolgswert jeder Stimme gleich sein.

Dennoch erklärten die Richter aber das Bundestagswahlergebnis von 2005 nicht für ungültig. Der Wahlfehler wirke sich zwar auf die Zusammensetzung des Bundestags aus, erklärte der Senat. Er führe aber nicht zu dessen Auflösung, "da das Interesse am Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des Bundeswahlgesetzes zusammengesetzten Volksvertretung überwiegt", heißt es weiter.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.