Soziologin Sassen über Barack Obama: "Sicher kein Radikaler"

Messianisch und doch postideologisch: Am Ende ist Barack Obama vielleicht nur ein Pragmatiker. Die Soziologin Saskia Sassen ist dennoch optimistisch: Obama könnte Veränderungen in Gang setzen.

Wird er die USA verändern? Präsidentschaftskandidat Barack Obama. Bild: Reuters

taz: Frau Sassen, auf der Konferenz „Divided we Stand – United we Fall. Perspectives on Inclusion and Exclusion in America“ an der FU Berlin haben Sie über neue Ungleichheiten in den USA gesprochen. Inwiefern unterscheiden sich diese von alten Ungleichheiten?

Saskia Sassen: In dem Ausmaß, mit dem sich Wachstum in Jobs sowohl mit sehr hohem als auch mit sehr niedrigem Einkommen übersetzt, während in der Phase des Keynesianismus, bis zu den 1970er Jahren, das Wachstum für ein stetiges Mehr an gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplätzen im Segment mittlerer Einkommen sorgte. Als ich das neue Muster in den späten 70er und frühen 80er Jahren zum ersten Mal wahrnahm, war sein statistischer Beleg noch schwierig. Nun, nach 20 Jahren der Datenakkumulation, können wir es deutlich erkennen. Zum Beispiel ging der gesamte Einkommenszuwachs der Jahre 2001 bis 2005 an die wohlhabendsten fünf Prozent der U.S.-Haushalte. Die auf dem ersten Arbeitsmarkt erzielten Einkommen der unteren 90 Prozent nahmen dagegen um 4,2 Prozent ab. In diesen fünf Jahren eines hohen Wirtschaftswachstums gewannen die obersten ein Prozent der Haushalte 298 Milliarden Dollar des Gesamteinkommens, während die unteren 90 Prozent 272 Milliarden Dollar verloren. Demnach schafft das Wirtschaftswachstum zwar Jobs, aber es erzeugt auch Ungleichheit, und das ist der Unterschied zur Periode von 1940 bis 1970.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat Obama hat Massen an Unterstützern durch sein geradezu messianisches Auftreten gewonnen. Die Umfragen sehen ihn derzeit vor John McCain? Legen seine eher vagen Versprechungen, die „gespaltene Nation zu einigen“ nahe, dass er genau diese neuen Ungleichheiten angehen wird?

Obama hat ein starkes Team von eher praxisnahen Ratgebern und Experten um sich geschart. Die große Frage ist: Wie viel kann eine Regierung in einer Marktökonomie überhaupt ausrichten? Diese Frage stellt sich natürlich auch in Deutschland. Aber zwischen Deutschland und den USA gibt es einen großen Unterschied. Hier kümmert sich der Staat tatsächlich um viele soziale Belange. Dagegen ließe sich in den USA eine Menge verbessern. Ein entscheidender Aspekt, der sofort angegangen werden könnte, ist die Sicherheit am Arbeitsplatz. Schon die Durchsetzung existierender Vorschriften würde viel verändern, obwohl wir sicherlich auch neue Regeln benötigen.

So stehen die USA zusammen mit einer Gruppe armer Länder im weltweiten Vergleich auf Platz 43 bezüglich schwerer Verletzungen und Todesfälle am Arbeitsplatz. Völlig unakzeptabel für ein so genanntes hoch entwickeltes Land. Hier könnte die Regierung intervenieren. Unter Bush wurden aber die Arbeitsplatzvorschriften verwässert, die Zahl der Inspektoren, die ja niemals hoch genug sein kann, schrumpfte. Stellen Sie sich die Effekte auf den Arbeitsmarkt vor, würden genügend Arbeitsinspektoren angeheuert, ganz zu schweigen von den positiven Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und Löhne. Zum zweiten sollten die Mindestlöhne auf ein angemessenes Niveau angehoben werden. Robert Reich, der Obama unterstützt, versuchte als Arbeitsminister unter Clinton in dieser Sache sein Bestes, erhielt aber von Clinton keine ausreichende Rückendeckung. Obama könnte dies mit einem demokratisch kontrollierten Kongress schaffen.

Die demokratischen Vorwahlen mobilisierten Menschen, die bisher nicht an institutioneller Politik interessiert waren oder von ihr die Nase voll hatten. Ist es nicht vorhersehbar, dass alle Hoffnungen auf einen fundamentalen Wechsel im politischen System, die Obamas Performance geweckt hat, frustriert werden müssen, wenn sich herausstellt, dass auch ein Präsident Obama dazu gezwungen ist, innerhalb beharrlicher Machtstrukturen zu agieren?

Oh ja, es wird zu Enttäuschungen kommen. Ich will nur daran erinnern, wie es unter Clinton war. So viele demokratische Wähler und Parteimitglieder wurden enttäuscht – und er hatte weitaus weniger versprochen. Doch die Zeit, die wir gerade durchleben, ist eine andere. Clintons Dekade war eine Art Epoche der Unschuld hinsichtlich des Glaubens an all den Einheitsbrei vom freien Markt, an die Demokratie, nun, da die Sowjetunion gerade untergegangen war. Wer auch immer der „durchschnittliche amerikanische Arbeiter“ (ich habe Zweifel an seiner Existenz) ist, es schien, als ob er diesem Glauben wirklich verfallen war. Heutzutage ist er das nicht. Es ist stets interessant zu beobachten, wie die Amerikaner (per Meinungsumfrage) sich schließlich von jenen abwenden, die sie zuvor „verehrten“. Uff! Wie befreiend jetzt, das Abwenden von Bush. Auch Obama riskiert, fallen gelassen zu werden. Aber hier zeigt sich ein weiterer Unterschied: Er hört auf die Signale von der Basis; er wägt ab (wie seine Rede über Rasse, seinen Ex-Pastor Wright und seine Großmutter deutlich werden ließ), er ist nicht ideologisch. Mag er auch Charisma besitzen und gerne andere begeistern, so bleibt er doch pragmatisch. Und er glaubt wirklich, dass das Übermaß an Ungleichheit, das Elend der Menschen, denen er als Community Organizer in Chicago zu helfen versucht hat, von der Regierung angegangen werden kann und muss, dass die Regierung um dieses Thema herum mit dem privaten Sektor in Partnerschaften treten kann.

Wie würde sich Obamas Präsidentschaft auf die U.S.-Gegenkultur auswirken? Würde es Graswurzelinitiativen schwächen, wenn Obama mit progressiver Politik alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, oder würde es sie stärken, wenn das Weiße Haus einige ihrer Forderungen aufgreife?

Ich denke, da gibt es kein Entweder/oder. Es wird etwas Drittes existieren: Die Kampagne Obamas hat eine vernetzte Plattform etabliert, die bestimmte Regierungsbehörden und –angehörige, inklusive des Präsidenten selbst, mit einer sehr breiten und diversen Spanne an lokalen Themen, Agenden und Energien verbinden würde. Und diese Plattform könnte neben älteren Formaten wie dem formellen Regieren von oben nach unten sowie bestehenden Graswurzelorganisationen koexistieren.

Für beide Konkurrenten um die demokratische Präsidentschaftskandidatur ist die Hautfarbe Obamas zum Thema im Kampf um Stimmen geworden. Was erwarten Sie beim Rennen ums Weiße Haus? Werden die Republikaner nicht versucht sein, die ethnische Identität des Gegners gegen diesen zu wenden?

McCain wird die Rassenkarte nicht ausspielen, selbst wenn dies seine Unterstützer gerne sähen. Doch die USA sind tief rassistisch. Rassismus ist fest mit ihrer sozialen und politischen Infrastruktur verdrahtet. Selbst jene, die wirklich wollen, dass ein Schwarzer die Chance zur Präsidentschaft erhält, machen rassistische Bemerkungen. Und auch wenn sie, darauf aufmerksam gemacht, sich ehrlich entschuldigen, vermögen sie doch rassistische Unterströmungen in Bewegung zu setzen, die auf viel subtileren Registern spielen als ein expliziter Rassismus, der ebenfalls reichlich vorhanden ist. Insofern muss die Republikanische Führung gar nicht viel tun: Viele Wähler werden durch ihren eigenen Rassismus geleitet, sei er nun explizit oder tief vergraben in der sozialen Psyche. Schließlich gibt es aber auch eine wachsende Masse von Menschen jeglichen Alters, die eine unsichtbare Linie überschritten haben, für die das einfach kein Thema mehr ist. Sie beurteilen die Kandidaten ausschließlich sachbezogen. Viele Menschen haben gegen Clinton gestimmt, weil sie diese zu stark an Konzerninteressen gebunden sahen oder weil Clinton sich als natürliche Anwärterin auf die Präsidentschaft verstand – die Präsidentschaft sozusagen als wohlverdiente Arbeitsplatzbeschaffung.. Ob dies fair ist oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Ich denke, dass ihr aber wiederum alle das ernsthafte Bemühen um die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge abgenommen haben, dass dies ihre Herzensangelegenheit ist, die über Machtpolitik hinausgeht.

Die Immigration wird eine zentrale Rolle sowohl im Wahlkampf als auch für den kommenden Präsidenten spielen. Dies betrifft vor allem die verschiedenen Latino Communities und ihre transnationalen Netzwerke wirtschaftlicher oder kultureller Aktivität. Die Latinos haben im demokratischen Vorwahlkampf mehrheitlich für Clinton votiert. Warum schaffte es Barack Obama nicht, ihre Stimmen zu gewinnen?

Dies ist nicht nur den inhaltlichen Positionen der Kandidaten geschuldet. Die Clintons blicken auf eine lange Geschichte der Kooperation mit Vertretern der Latinos zurück. Das hat Vertrauen aufgebaut. Doch das Gleiche kann eigentlich auch für die Schwarzen gesagt werden, und ursprünglich war Clinton ja auch in überwältigendem Maße ihre Kandidatin. Die Bedeutung von Loyalität in Latino Communities, in denen Familie und Verwandtschaft ein fester Grund für das gemeinsame Handeln vieler bleibt, könnte auch eine Rolle gespielt haben. Und, sorry, dass ich das so sagen muss: zu einem gewissen Maße auch diverse Rassismen.

Einige politische Kommentatoren wie Sean Wilentz in „New Republic“ oder George Packer im „New Yorker“ attestierten jüngst den Konservativen, dass ihre Ideologie ein Auslaufmodell sei. Bushs Präsidentschaft sei sowohl ein letztes triumphales Aufbäumen als auch der Sargnagel dieser Ideologie. Teilen Sie den Optimismus der beiden?

Ich stimme ihrer Lesart zu, wonach ein zunehmendes Gefühl der Ermüdung an konservativer Politik unter den „Meinungsmachern“ und jenen, die Umfragen beantworten, herrscht. Das ist aber auch der ‚American Way’: her mit dem nächsten Produkt, der nächsten Mode. Zugleich gibt es einen tiefergehenden Zeitgeist, mit dem wir es hier zu tun haben. Die Bereitschaft anzuerkennen, dass einige der respektabelsten Konzerne ihre Macht missbraucht haben, dass die Wirtschaft massive Reichtümer und zugleich massive Armut produziert und dass all dieser Missbrauch von Macht und Vermögen sich an der Grenze zur Illegalität bewegt. Obama ist sicher kein Radikaler, aber ein Pragmatiker mit einem tiefen Sinn für soziale Gerechtigkeit, der sich anschickt, grundlegende Änderungen im Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft in Gang zu setzen. Ich denke wirklich, dass es in den USA innerhalb dieses Rahmens eine Menge Raum für massive Verbesserungen gibt. Im Gegensatz zu Deutschland und anderen Ländern Westeuropas sind die USA nämlich eine Marktzone in Wildwestmanier.

In Ihrem Buch "Das Paradox des Nationalen, Territorien, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter", schildern Sie, wie die nationalen Parlamente Befugnisse und Funktionen verloren haben, während die Exekutive, dadurch, dass sie sich selbst an transnationale Politikarrangements ausgerichtet hat, zunehmend an Macht gewinnen konnte. Der zukünftige U.S.-Präsident, ob er nun Obama oder McCain heissen wird, ist derzeit noch Senator und hat dementsprechend die Demontage der Legislative direkt miterleben können. Dürfen wir erwarten, dass er dem Parlament Macht zurückgeben wird? Oder wird ihn die Angst, dann als schwacher Präsident zu gelten, davon abhalten?

Eine gute Frage: Es gibt strukturelle Bedingungen, welche die Macht der Exekutive speisen, was heisst, diese Entwicklung geht über die politischen Parteien hinaus. Ähnlich verhält es sich mit der Legislative: Mit der Implementierung einer neoliberalen Politik, wird sie ausgehöhlt. Sie verliert ihre Aufsichtsfunktion, da immer mehr Aktivitäten dereguliert, privatisiert und marktförmig organisiert werden. Wie aber mit diesen neuen strukturellen Bedingungen verfahren wird, hängt schon von der Politik - von der politischen Führung und vom politischen Mut - ab. Obama, wie zuvor auch Bush, würde sich einer Legislative gegenüber sehen, die von seiner Partei dominiert wird. Das ist ein großer Vorteil. Bush baute seine Macht beständig aus, und die Legislative akzeptierte im Grunde genommen alles, was er vorschlug. Es war schließlich der konservative Supreme Court, der hin und wieder sagte: Jetzt reicht's! Das war schon ein Ding. Deshalb ist die Frage: Für was wird Obama seine erweiterte Macht nutzen? Ich denke, er wird sie für einige eher umgestaltende Maßnahmen einsetzen. Die erweiterte Macht der Exekutive nimmt viele verschiedene Formen an: Bush mit seiner Privatisierungsagenda und Chavez mit seinem Sozialismus. Obama befindet sich da irgendwo in der Mitte.

Sie kritisieren, dass Wissenschaftler, die sich mit Globalisierungsprozessen befassen, es versäumt haben, die Transformationen innerhalb der Staatsapparate als eine Quelle der neuen transnationalen Politikarrangements zu untersuchen. Aber, müssen Sie sich da nicht an die eigene Nase fassen, da Sie doch zu Beginn der 90er Jahre Ihre Global City Theorie entwickelt haben und dabei offensichtlich den Nationalstaat als entscheidenden Akteur bei der Genese dieses neuen Typus von Territorialität unberücksichtigt ließen. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

Ja, so könnte man es schon sehen. Aber mit der Global City habe ich die Basis für eine Erforschung der Globalisierung hergestellt, die es erforderlich macht, die nationale Ebene in den Blick zu nehmen. Statt nur auf die Geldwirtschaft als globale, elektronische Netzwerke zu schauen, habe ich danach gefragtt, warum und wie sie territoriale Einflechtungen benötigen. Diese Fragen einzuführen hieß, die ganze Vielfalt an nationalstaatlichen Politiken, an Beschäftigten und urbanen Räumen sichtbar zu machen, die so aussehen, als hätten sie mit dem Globalen gar nichts zu tun, aber tatsächlich ein Teil davon sind, Teil von einem der fortgeschrittensten ökonomischen Sektoren. Hier herrschte ein Missverständnis, wenn Kommentatoren behaupteten, ich würde mich nicht mit dem Staat beschäftigen. Sicher, Ich beschäftigte mich nicht mit "dem" Staat, aber ich behandelte im Detail sehr spezialisierte Politiken, die, so argumentierte ich, die Globalisierung ermöglicht haben: die finanzielle Deregulierung, die Abschaffung von Sparkapital und Kreditanstalten, Gesetze, welche die Auslagerung von Produktionsjobs erleichterten, usw.. Darin war eine Menge Staat enthalten, aber nicht "der" Staat, als ein von außen betrachteter.

Sie und andere U.S.-Akademiker unterstützten prominent die Kampagne für Andrej Holm, den deutschen Stadtsoziologen, der aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß des umstrittenen Paragraphen 129a in Haft genommen wurde. Der Verdacht war unbegründet. Es war aber auch der Druck aus dem Ausland, der Andrej Holms Freilassung beschleunigte. Ein gutes Beispiel für das, was Sie in Ihrem Buch als neue Räume des politischen Engagements, die sich über nationale Grenzen hinweg öffnen, bezeichnen?

Ja, weltweit können Menschen innerhalb von 24 Stunden mobilisiert werden. Ich habe unter anderem schon die Forderungen der Südkoreanischen Gewerkschaften unterstützt (deren Strategie es geradezu ist, sich internationale Unterstützung zu holen), und den Kampf gegen die Slumbeseitigung in Mumbai. Hierbei handelt sich um eine Art von "flash politics".

INTERVIEW OLIVER POHLISCH

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