Sexualwissenschaftler Martin Dannecker: "Liebesentzug tut fast so weh wie Schläge"

Der Impuls, seinen Kindern die homosexuelle Neigung mit Gewalt auszutreiben, ist gesellschaftlich nicht mehr tragfähig sagt Martin Dannecker. Ein Gespräch über die Familie.

Nicht mehr durchgängig üblich: Faustschläge zum Coming Out Bild: ap

taz.mag: Herr Dannecker, im Vergleich zu den Fünfzigerjahren leben Familien in Deutschland heute sehr viel liberaler. Inwiefern ist familiäre Gewalt noch ein Problem?

Martin Dannecker: Die Vorstellung von Erziehung hat sich sicher verändert. Sie wird nicht mehr gleichgesetzt mit Dressur, die auch Schläge legitimiert. Diese Form der Pädagogik ist tabuisiert - was aber nicht heißt, dass sie nicht existiert. Eine problematische Frage bleibt: In welcher Form kann man von einer gewaltsamen Atmosphäre in Familien sprechen, wenn es um unterschiedliche sexuelle Entwicklungen geht?

Was glauben Sie?

Nach meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass es nicht mehr so häufig zu Versuchen kommt, Homosexualität auszutreiben. Trotzdem habe ich noch vor zehn Jahren einen Fall erlebt, der hoch problematisch war. Ein junger Mann erzählte, dass seine Eltern ihn bereits vor dem Coming-out bedrängten, vor allem der Vater. Er sei kein richtiger Junge und nicht der Sohn, den er sich wünsche. Das ist für die Entwicklung deshalb problematisch, weil der Vater derjenige ist, der Männlichkeit bestätigt. Mütter sind da offener. Dieser Junge wurde, als er in die Adoleszenz kam, wegen der Vermutung, dass er eventuell homosexuell sein könnte, aus der Wohnung ausgeschlossen und musste in der Garage übernachten. Er hat auf Campingmöbeln gehaust.

Das klingt nicht nach einem Fortschritt.

Solche Fälle sind sicher die selteneren. Dieser Impuls zur Ausgrenzung oder zu teils gewaltsamen Versuchen, jemandem die sexuelle Differenz auszutreiben, der mag noch vorhanden sein, aber er ist gesellschaftlich nicht mehr so tragfähig wie früher, es sind Zweifel daran aufgekommen. Eine drakonische Reaktion, mit welchen Therapieversuchen auch immer, ist nicht mehr zeitgemäß. Eine große Rolle spielt in dieser Hinsicht die stärkere öffentliche Darstellung von Homosexualität. Die Zeichen können deshalb innerhalb von Familien besser dechiffriert werden. Dennoch bleibt die Vermutung belastend, und da wird interveniert.

Was genau belastet denn Eltern?

Es gibt ganz archaische Wünsche, die dann scheinbar nicht erfüllt werden. Ich kenne bis heute fast keine Eltern, die die homosexuelle Entwicklung fast gleichgültig, im Sinne von Geltung, ansehen würden wie die heterosexuelle, auch wenn man noch so liberal ist. Vor etwa zehn Jahren machte ich diese Erfahrung in einem Gruppengespräch, in dem es um homosexuelle Jugendliche ging. Anwesend waren relativ liberale Leute. Bis eine Mutter von ihren zwei Söhnen erzählte: Der eine entsprach nach ihrer Darstellung den Geschlechterrollenklischees, er war ein richtiger Junge, spielte Fußball und raufte. Ihr anderer Sohn war ganz anders, gemessen an dem ersten: Femininer, er interessierte sich nur für Filmschauspieler. Die Mutter beendete diese Erzählung damit, dass sie sagte: "Ich glaub, der wird schwul." Im Ton hatte sich bei ihr aber nichts verändert, es gab keine Besorgnis.

Wie haben die anderen darauf reagiert?

Ganz klassisch. Die Gruppe geriet in anhaltende Unruhe und war damit beschäftigt, der Mutter beizubringen, dass man so darauf aber nicht reagieren könne. Da wird immer Besorgnis angemeldet und Diskriminierung ins Feld geführt, vor allem gegen die Mutter. Sie hingegen hat wirklich hoch interessant reagiert, weil sie sich nicht in dieses liberale "Ja, aber" einordnen ließ, sondern einfach keinen Unterschied erkennen ließ in der Beziehung, in der Liebe und Nähe zu ihrem Sohn. So etwas habe ich während meiner Beratungstätigkeit äußerst selten erlebt.

Martin Dannecker, geboren 1942 in Oberndorf am Neckar, zählt zu den renommiertesten Sexualwissenschaftlern Deutschlands. Seine Forschungsschwerpunkte sind männliche Homosexualität, sexuelle Minderheiten und HIV/Aids. Mit seinem Coming-out im Alter von 18 Jahren beginnt er sich mit der Literatur zu Homosexualität zu beschäftigen. Von 1977 bis 2005 ist er am Institut für Sexualwissenschaften in Frankfurt am Main tätig.

Wichtigste Werke: "Der gewöhnliche Homosexuelle", eine empirische Studie, 1974 publiziert mit dem Psychoanalytiker Reimut Reiche, damals Vorsitzender des Sozialistischen Studentenbundes (SDS). Mitarbeit an Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Nach der Ausstrahlung des Films im Fernsehen gründeten sich die ersten politischen Schwulengruppen der Nachkriegszeit.

Heute lebt Dannecker in Berlin, gibt mit Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch die Buchreihe "Beiträge zur Sexualforschung" im Psychosozial-Verlag heraus, und ist Kuratoriumsmitglied der Initiative "Queer Nations e. V.". Er ist auch Herausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung, die im Georg Thieme Verlag Stuttgart erscheint. SL

Empfinden Söhne diese unterbewusste Distanz in der Beziehung, den Liebesentzug, als psychische Gewalt?

Die Homosexualität fängt ja nicht erst an, wenn sie bewusstseinsfähig wird. Sie ist als Disposition bereits vorhanden, mit der Folge, dass man in eine unterschiedliche Konstellation der ödipalen Phase eintritt. Dort wird nämlich nicht das Gegengeschlecht zum erwünschten Sexualobjekt, sondern schon das gleiche, nämlich der Vater. Wenn er unbewusst mit Sexualität besetzt ist, bringt das größte Irritationen. Der Junge setzt sich in Szene, in der Vorstellung, der Vater begehre nur Frauen. Daher gibt es einen Feminitätsschub, auf den der Vater und die Umwelt um so heftiger ablehnend reagieren.

Wozu führt diese Nichtanerkennung?

Sie bleibt eine Erfahrung, die jeder Homosexuelle auch nach einem Coming-out, wo die Differenz einen Namen bekommt, ständig in seine Identität integrieren muss. Das ist ein ausgesprochen schwerer Prozess. Zwar ist es heute leichter, Anschluss zu finden in der homosexuellen Community, es gibt Medien, das Internet. Aber bis zum Coming-out befindet man sich in einer relativ einsamen Position, weil man nicht mit einem empathischen Verstehen rechnen kann. Meistens bleibt man damit der Einzige in der Familie. Hierin besteht der große Unterschied zu anderen verfolgten und diskriminierten Minderheiten: Es gibt keinen innerfamiliären Zusammenhalt gegen von außen kommende Diskriminierung.

Woran liegt das? An den archaischen Wünschen, die Familienlinie fortzuführen?

Eltern möchten sich im metaphorischen Sinne fortpflanzen, also in einen generativen Zusammenhang einbringen und Enkelkinder haben. Diese Hoffnung knüpft sich an die Arbeit der Kindererziehung. Die Enttäuschung, wenn dieser Wunsch nicht erfüllt wird, habe ich auch immer gut verstanden. Aber wenn dieser enttäuschte Wunsch zu potenzieller Gewalt führt, dann handelt es sich doch um eine Zwangserwartung.

Und die Söhne zerbrechen an diesen Zwangserwartungen, die teilweise über Strafen oder Umerziehungsversuche erfüllt werden sollen?

Ich habe mehrfach junge Homosexuelle gesehen, die auf den ersten Blick einen schwer traumatisierten Eindruck machten. Sie konnten keine Beziehung aufnehmen, nicht richtig sprechen. Immer wieder stellte sich heraus, dass sie massive Gewalterfahrungen gemacht hatten. Vor allem die jüngere Generation der Homosexuellen hat im Alltag wörtlich genommen, dass alles möglich ist. Sie haben sich in der heterosexuellen Männeröffentlichkeit, in der Kneipe, gezeigt - und hatten gleichsam gar keine Mittel, sich zu schützen.

Wie könnten sie sich schützen?

Sich und seine Homosexualität in bestimmten Situationen verbergen, meine Generation hat das noch gelernt, schon allein, um nicht körperlich massiv angegriffen zu werden. In einem Fall, der mir bekannt ist, handelte es sich um richtige Folter. Ein junges Paar fuhr an die Ostsee. Auf dem Weg in ihre Pension kamen sie an einer Kneipe vorbei, wo ein heterosexuelles Tanzvergnügen stattfand. Sie tranken an der Bar ein Glas Sekt, und der eine sagte zum andern: "Darf ich bitten?" Und es tanzten zwei Männer - nicht mehr. Als sie das Lokal verließen, kamen ihnen die Heteromänner allerdings nach, haben sie verprügelt und verlangt, dass sie sich gegenseitig oral befriedigen - wofür sie wieder geschlagen wurden.

Eine perfide Bestrafung für die zugefügte Erniedrigung?

Ja, das war mit Abstand das Drakonischste. Mit der Folge, dass die Beziehung unter solchen Umständen fast immer zu Ende geht, weil es unbewusste gegenseitige Schuldvorwürfe und Projektionen gibt. Dazu gehört - das gilt durchgängig für alle, mit denen ich mich beschäftigt habe -, dass sie nicht zur Polizei gingen, um den Vorfall anzuzeigen. Und das kann man wirklich nur erklären mit dieser frühen Erfahrung der Entwertung, weil sie wie alle Opfer in diesen sexuell traumatisierten Beziehungen ihren eigenen Wunsch als eigene Beteiligung erleben. Das ist immer noch gesellschaftliche Wirklichkeit, die mir nicht ausreichend thematisiert wird in diesem ganzen Eiapopeia, wie leicht und gut es jetzt für Homosexuelle doch sei, anders zu werden und anders zu sein.

Ist dieses leichtere Leben in einer Großstadt wie Berlin möglich?

Es bleibt doch immer die Frage, was man als Gewalterfahrungen definiert. Wenn man die Betroffenen fragt, ist es nach wie vor ein erheblicher Anteil, der bestimmte Reaktionen als gewaltsam wahrnimmt und sie erlebt - von verbalen Attacken bis zu bedrohenden Angriffen, die ja die Integrität infrage stellen. Ich denke, das ist die andere Seite der selbstverständlichen Offenheit, denn dadurch werden die Zweifel, wie ernst die Liberalität gemeint ist, nicht mehr ausgebildet.

Wie hätten Sie bei einem Besuch in jener Kneipe an der Ostsee denn reagiert?

Mir wäre es natürlich nie eingefallen, in einer solchen Kneipe zu tanzen, weil ich geahnt hätte, dass es etwas entzündet, dem ich nicht standhalten kann. Deshalb existiert ja immer noch eine eigene Szene, die idealerweise ein Raum ist, wo man geschützt ist, wenn man sich sexuell artikuliert.

Inwieweit spielt bei dem Empfinden, man habe selbst Schuld an der Andersheit, eine Rolle, dass Eltern einen anderen Kinderwunsch hatten? Also ein Mädchen wollten statt einen Jungen?

Das ist eine gute Frage, weil man immer fragen muss, wo der Anfang der Differenz liegt, welche Konstellationen am Ende zu einer homosexuellen Disposition führen - wenn man nichts Biologisches annimmt, was ich nicht tue. Ein Kollege und Freund, Reimut Reiche, hat diese These stark gemacht, indem er gesagt hat, da wird etwas über einen unbewussten Wunsch implantiert. Im Sinne von: "Eigentlich hättest du ja ein Mädchen sein sollen. Wo du jetzt aber keines bist, wirst du ein mädchenhafter Junge." Ich bin nicht ganz so sicher, ob es so funktioniert. Diese Kausalkette ist ein wenig mechanistisch.

Sie würde aber die Ablehnung erklären.

Es mag ein Elternwunsch bleiben, aber in der Realität soll es ja dann doch kein mädchenhafter Junge sein. In jedem Mann ist immer etwas Nichtmännliches angelegt, was ich mit Emphase weiblich nenne. Daher finde ich es so merkwürdig, dass viele Homosexuelle sich ihre Weiblichkeit austreiben wollen, weil es feminin oder schwul sein könnte.

Wieso erstaunt Sie das, sie wird doch in der Heterowelt als erstes und offensichtliches schwules Indiz abgelehnt?

Es erstaunt mich nicht, aber ich wünschte mir wirklich, dass es kein so großes Problem mehr wäre. Vielleicht sind die Homosexuellen im theoretischen Sinne die wirklich Bisexuellen, weil sie innerlich sowohl weibliche als auch männliche Repräsentanzen ausgebildet haben. Aber theoretisch kann ich das gut sagen, in der Praxis sind die Probleme da. Ich wünschte mir wirklich, dass die Selbstaustreibung dessen, was nicht als männlich gilt, ein Ende hat. Bei heterosexuellen Männer wird im gesellschaftlichen Mainstreamdiskurs gerade mehr Mut zu sogenannten weiblichen Seiten gefordert - vor allem im Hinblick auf die Erziehung von Kindern.

Wieso bleibt es bei Homosexuellen ein Tabu?

Das lässt sich durchaus mit Judith Butlers Begriff der Heteronormativität erklären. Unsere Kultur ist bestimmt von dem Merkmal hetero, und sie wird es bleiben. Daraus wird eine Differenz, normal und abweichend, abgeleitet. Zur Gewalt gegen Homosexuelle kommt es immer dann, wenn diese Differenz sichtbar wird. Wenn es etwa wirklich eine Tunte ist oder wenn ein Paar in der Öffentlichkeit auftritt. Dann wird der Unterschied wieder gemacht, zwischen Homo und Hetero.

Der nicht mehr so groß erscheint.

Das glauben ja viele, dass es doch längst nicht mehr so problematisch ist. Aber man muss sich ständig mit dieser Bewegung des Ausgrenzens beschäftigen. Daraus entsteht ein Zwang zur Identität, und am Ende muss man sicher mit dem gleichen Recht von Zwangshomosexualität sprechen wie von Zwangsheterosexualität.

Bedeutet das, auf die Familie bezogen, dass Schwule akzeptieren müssen, wenn ihre Eltern diese Differenz ebenso ausgrenzend machen?

Einerseits, würde ich schon sagen, muss man dagegen ankämpfen. Wenn man andererseits aber die erwünschte Position nicht erreicht, muss man ab einem gewissen Zeitpunkt einen Bruch riskieren, um eine neue Annäherung zu ermöglichen. Damit transformiert man passives Verhalten in ein aktives. Denn es gibt eine verblüffende Erkenntnis, die ich bei meinen Gutachten mit iranischen Homosexuellen gewonnen habe. Einerseits lehnten Eltern die Homosexualität ihrer Söhne heftig ab, andererseits retteten sie sie aus gefährlichen Situationen, in denen die körperliche Integrität der Söhne bedroht war. Fast ausnahmslos alle Eltern trieben Geld für die Flucht auf. Die wunderbare Erklärung der Söhne für dieses Verhalten: "Weil sie mich doch liebten."

Liebe bedeutet demnach "Ausgrenzen: ja - Tod oder Versehrung: nein"?

Eben so weit geht die Ablehnung nicht, wenn es um elterliche Beziehungen geht. Die homosexuellen Söhne mögen es ein bisschen schlechter haben, und sie sollen auch diskriminiert werden, aber es wäre nicht auszuhalten, wenn der Todeswunsch - der ja immer dahintersteckt - Wirklichkeit würde.

Wenn Sie an Ihre persönliche Coming-out-Phase und Ihre Familie zurückdenken, welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Und was würden Sie heute anders machen?

Ich habe ja eine Spezialgeschichte, die zum Coming-out gehört, aber auch zum Umgang damit. Denn ich habe mich irgendwann dazu entschlossen, mich nicht nur privat mit Homosexualität zu beschäftigen, sondern darüber auch wissenschaftlich zu arbeiten, also zu reflektieren und zugleich Schwulenpolitik zu machen. Das war eine wichtige Entscheidung. Vor meinem ersten Auftreten im Fernsehen habe ich mir sehr genau überlegt, wie mein öffentliches Coming-out auf meine Eltern wirken wird.

Sie kommen ja aus einer Stadt …

… mit zweitausend Einwohnern. Und ich wusste, dass mein Coming-out meinen Eltern ausgesprochen große Schwierigkeiten bereiten würde. Das war mir klar, und das war auch so. Kaum war ich von der Diskussion nach der Fernsehausstrahlung des Praunheim-Films "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" nach Hause zurückgekommen, rief mein Vater mich an und hat am Telefon ununterbrochen geschrien. Weil ich zudem eine andere Beziehung zu meiner Mutter hatte, führte er sie natürlich als Hauptargument an, dass sie jetzt auch ganz durcheinander wäre, nicht mehr einkaufen gehen könne und Ähnliches.

Wie sind Sie mit diesen Schuldzuweisungen umgegangen?

Ich habe meine Mutter ein Jahr lang nicht gesehen, meinen Vater erst wieder, als er auf den Tod erkrankt war - das wollte ich zu dem Zeitpunkt auch unbedingt machen. Unter anderen Umständen wäre ich nicht gefahren, weil ich eigentlich von meinem Vater erwartet hatte, dass er sich entschuldigt.

Was er aber nicht konnte?

Nein, er konnte nicht. Und wenn Sie jetzt fragen, was ich daraus ableite, dann in der Tat den Schluss, dass man sich mit schlechten Verhältnissen nicht unbedingt arrangieren soll. Und mein Vater, ein Meister der klassischen Technik des Ungeschehenmachens, sagte nur so wunderbar, als er mich sah: "Bist du auch da." Bei meiner Mutter gab es schon früher eine Wiederannäherung, aber - und das ist das Interessante - eine auf einem anderen Niveau. Sowohl für meine Mutter als auch für mich selber, das hat den Umgang entdramatisiert und erleichtert.

Weil sich die Erwartungen an den jeweils anderen änderten?

Ja, und weil ich auch sehr klar damit umgegangen bin. Deshalb habe ich auch im beruflichen Zusammenhang keine direkten diskriminierenden Erfahrungen gemacht, die Leute werden manches hinter vorgehaltener Hand gesagt haben, aber das dürfen und durften sie, das bringt mich nicht sonderlich durcheinander. Unter Umständen muss es aber ein wenig heftig sein, wenn man seinen Weg sucht, und man sollte sich nicht so einfach arrangieren, sonst gerät man schnell in die Falle.

Rational betrachtet sicher, aber das bringt doch auch eine große emotionale Belastung mit sich?

Aus der Position des Kindes ist es natürlich furchtbar, wenn man glaubt, wegen irgendetwas Seltsamen, was man nicht verstehen kann, die Liebe der Eltern zu verlieren. Das ist als Disziplinierungsinstrument ähnlich wirksam wie Schläge. Man sollte diese Drohung mit dem Liebesentzug nicht kleinreden. Sie wirkt fast so grausam, wie Schläge es sind. Die Drohung mit Gewalt ist latent da, sie muss gar nicht ausgesprochen werden, man kann ja Gesichter lesen und diesen Blick, der einem entzogen wird.

Hat Gewalt innerhalb homosexueller Beziehung auch mit diesen Erfahrungen als Kind zu tun?

Ein Teil davon wird damit zu tun haben. Wenn in einer homosexuellen Beziehung eine gegenseitige Anerkennung nicht fraglos vorhanden ist, dann wird es krisenhaft und potenziell auch gewalttätig. Denn jedes signifikante Liebesobjekt erbt etwas von den frühen Liebesobjekten. Wenn es dabei um potenziell traumatische Erfahrungen geht, dann wird von dem neuen Liebesobjekt oft erwartet, dass es traumatische Erfahrungen wieder gutmacht. Dies kann zu bitterer Enttäuschung führen, manchmal auch zu aggressiven und gewalttätigen Ausbrüchen.

Imitiert man unbewusst Verhalten, das man bei den Eltern erlebt hat?

Diese Übertragung ist mir zu direkt, aber es ist etwas Wahres dran. Jemand, der Erfahrung mit Gewalt macht, sie passiv erleidet, wird eher dazu neigen, etwas passiv Erlebtes in etwas Aktives zu übertragen und seinerseits als Erwachsener Gewalt einzusetzen. Ein häufig anzutreffender psychischer Mechanismus, mit dem Opfer von Gewalt versuchen, sich aus der Position der Hilflosigkeit herauszubegeben.

Eine Hilfestellung für Sie persönlich war, wie Sie sagten, das wissenschaftliche Reflektieren der sexuellen Differenz. Nun ist das ja nicht für jeden im Alltag in dieser Form möglich. Was kann noch helfen?

Am allerbesten ist es, das wird ja auch oft so praktiziert, wenn es Beziehungen gibt, in denen man sich austauschen kann. Über ihre gemeinsamen Erfahrungen mit Homosexualität sprechen sich viele der Jüngeren miteinander im Coming-out auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen aus. Das ist eine Art der Selbsthilfe, dass man untereinander kommuniziert und unterschiedliche Umgangsweisen sieht. Ich will aber keinem Zwang zur Reflexion oder einer ewigen Selbstvergewisserung das Wort reden. Das ist auch eine Falle.

Worin liegt die Gefahr?

Dass man sich seine Identität immer erklären muss, bis hin zu der großen Frage, die sich viele immer noch stellen: warum sie denn homosexuell geworden sind. Meistens wird dann dazu die Theorie bemüht. Aber ich bin der Meinung, dass man zu dieser Frage sowieso nichts sagen kann, die Frage müssen sich auch andere nicht stellen. Gemeinsam ausgetauschte Erfahrungen ja, aber irgendwann ist es gut mit Hinterfragen.

Und Zeit wofür?

Eigentlich wünsche ich mir, das ist auch mein Anspruch, dass Homosexuali- tät als selbstverständlich anerkannt wird. Daran würde ich immer festhalten, aber dabei betonen: Glaubt bloß nicht, dass es schon so wäre! Trotzdem bleibt es mein Anspruch, dass die Differenz nicht in jeder Szene aufgemacht wird.

Das richtet sich nun an Homosexuelle und nicht an die Mehrheitsgesellschaft? Aufzuhören, nach Anerkennung durch die anderen zu suchen?

Das ist genau der Punkt. Wenn man Anerkennung in Szene setzt, also in dem Sinne, dass man von dem anderen anerkannt werden möchte, ist man nicht souverän. Deshalb will ich, dass eine Selbstverständlichkeit entsteht und kein verstehbares Anerkennen.

Entkommt man überhaupt der Suche nach Anerkennung?

Nie ganz, aber wenn man sie zum Zentrum macht, dann bleibt man in einer relativ schwachen Position: immer abhängig vom Anerkennenden.

INTERVIEW: SUSANNE LANG

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