Debatte Verfassungsrichter-Wahl: Karlsruhe ohne Kungeln

Verfassungsrichter sollten nicht in Hinterzimmern von SPD und CDU/CSU bestimmt werden. Ihre Wahl muss transparenter sein und öffentlich diskutiert werden können.

Andreas Voßkuhle - diesen Namen hatte niemand im Sinn, als in den letzten Monaten über einen neuen Vizepräsidenten am Bundesverfassungsgericht spekuliert wurde. Doch dann ging alles ganz schnell. Erst vor einer Woche hat die SPD den Rektor der Freiburger Universität aus dem Hut gezaubert. Und schon an diesem Freitag soll der erst 44-jährige Rechtsprofessor in sein neues Amt gewählt werden. Der nächste Karrieresprung ist bereits absehbar: In zwei Jahren wird Voßkuhle zum Präsidenten des Karlsruher Gerichts aufrücken.

Was spricht für Voßkuhle? In Freiburg hatte man ihm zugetraut, dass er eine Universität führen kann. Bewähren konnte er sich aber noch nicht. Er war gerade mal zwei Wochen im Amt, als die SPD ihn letzten Freitag als Kandidaten präsentierte. Außerdem ist Voßkuhle ein renommierter Experte im Verwaltungsrecht, allerdings hat er sich mit Verfassungsfragen bisher weniger beschäftigt. Er war deshalb für alle ein Überraschungskandidat. Möglicherweise ist er ein Glücksgriff, aber wissen kann man das nicht.

Deshalb wirft gerade seine Wahl Fragen zur Auswahl der Verfassungsrichter auf. Brauchen wir nicht mehr Transparenz und Raum für eine gesellschaftliche Debatte, wenn eine so wichtige Position vergeben wird? Soll wirklich nur eine Hand voll Insider aus SPD und CDU/CSU hier kungeln?

Derzeit wird die eine Hälfte der Verfassungsrichter vom Bundestag, die andere Hälfte im Bundesrat gewählt. Stets ist zur Wahl eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, weshalb sich die beiden großen Parteien über alle Richter einigen müssen. In der Praxis sieht das so aus: Für die eine Hälfte der Posten hat die SPD das Vorschlagsrecht, für die andere Hälfte die CDU/CSU. Das Verfahren soll eine ausgewogene Besetzung des Verfassungsgerichts sicherstellen.

Doch nicht immer läuft das Kungeln so reibungslos wie jetzt bei Voßkuhle. Aufgrund einer Panne wurde im Januar der Name des Würzburger Rechtsprofessors Horst Dreier vorzeitig bekannt. Er war ursprünglich der Kandidat der SPD für den Posten des Karlsruher Vizepräsidenten. Die CDU/CSU hatte dem Vorschlag aber noch nicht zugestimmt.

Plötzlich wurde die Debatte auf dem offenen Markt ausgetragen. Die Union kritisierte vor allem Dreiers liberale Positionen zum Embryonenschutz. Ein Affront gegenüber der SPD. Dass Dreier Positionen vertritt, die nicht zur katholischen Weltanschauung passen, ist eigentlich kein zulässiger Grund, den Kandidaten abzulehnen.

Doch die Sozialdemokraten hatten nicht die Kraft, ihren Kandidaten durchzusetzen, weil ihn auch weite Teile des bürgerrechtlichen Lagers für unwählbar hielten. Der Würzburger hatte nämlich in seinem Grundgesetzkommentar angedeutet, dass er Ausnahmen vom absoluten Folterverbot für zulässig halten könnte. Wer bei dieser zentralen Frage wackelt, hieß es zu Recht, soll nicht als Vizepräsident des Verfassungsgerichts unsere Rechts- und Werteordnung repräsentieren.

Man könnte nun sagen: So soll es sein. Die öffentliche Debatte hat stattgefunden und am Ende musste die SPD sogar ihren Kandidaten zurückziehen. Man müsste künftig nur sicherstellen, dass zwischen Vorstellung des Kandidaten und Wahl einige Wochen Zeit liegen, so dass sich eine Diskussion überhaupt entfalten kann. Doch so einfach ist es nicht. Die heftige Debatte um Dreier lebte vor allem davon, dass sein Name bekannt wurde, bevor sich die Strippenzieher geeinigt hatten. Aus Sicht der Parteistrategen war das ein Unfall, solche Debatten wollen sie eigentlich vermeiden.

Nun gibt es ein starkes Argument für das bisherige Auswahlverfahren: Es hat dazu beigetragen, dass das Bundesverfassungsgericht schon seit Jahrzehnten das größte Ansehen aller Staatsorgane genießt. Das ist natürlich vor allem ein Verdienst der Verfassungsrichter, die überwiegend starke Charaktere sind und sich oft auch anders entwickelten, als es sich die vorschlagende Partei einst vorgestellt hat. So schlecht kann das Auswahlverfahren also nicht sein.

Doch auch was gut ist, kann man noch verbessern. Angesichts der großen Macht der Verfassungsrichter, die sogar in der Lage sind, Gesetze zu annullieren, muss es erlaubt sein, über die Legitimität des Wahlverfahrens nachzudenken.

Schon oft wurde gefordert, die Richterkandidaten vor der Wahl öffentlich zu befragen, wie dies in den USA üblich ist. Dort wird von einem Senatsausschuss stundenlang mit den Kandidaten über ihre bisherige Arbeit und ihre Positionen zu Abtreibung, Todesstrafe und anderen strittigen Verfassungsfragen diskutiert. Das Fernsehen überträgt die Anhörungen, und die Richter sind oft bekannter als viele Minister. Nachteil des US-Systems: Dort schlägt der Präsident die Richter vor, der Senat wählt sie mit einfacher Mehrheit, es gibt keinen Minderheitenschutz. Doch dieser Webfehler ist nicht notwendig mit dem US-Modell der öffentlichen Richterbefragung verbunden.

Noch demokratischer wäre es, wenn die vorschlagende Partei nicht nur einen, sondern mehrere, zum Beispiel drei, Kandidaten benennen müsste. Dies würde einer Kandidatenanhörung noch mehr Gewicht geben, weil anschließend eine echte Auswahl stattfände. Die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werden bereits nach ähnlichem Muster gewählt: Jede Regierung schlägt der Parlamentarischen Versammlung des Europarates drei Kandidaten vor; gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält.

Zu ändern wäre außerdem die faktische große Koalition, die bei der Richterwahl seit Jahrzehnten besteht. SPD und CDU/CSU geben an die kleineren Parteien nur dann ein Vorschlagsrecht ab, wenn diese gerade an der Regierung beteiligt sind. Derzeit sind FDP, Linke und Grüne aber gemeinsam in der Opposition, haben also keine Chance, einen Richter oder eine Richterin zu benennen.

Es liegt deshalb nahe, die Vorschlagsrechte proportional auf alle Fraktionen zu verteilen. Anhörung und Listenauswahl lägen dann plötzlich auch im Interesse der großen Parteien.

Eine Reform der Verfassungsrichterwahl könnte an der Spitze beginnen, also bei Präsident und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Beide haben bei Abstimmungen im Gericht zwar nur eine Stimme, wie die anderen Richter auch, aber sie stehen als Repräsentanten des Gerichts politisch meist stärker im Rampenlicht. Vermutlich ist es deshalb kein Zufall, dass sich Konflikte bei die Richterwahl meist an den designierten Präsidenten entzündeten. Das war bei Horst Dreier so und auch 1993 bei Herta Däubler-Gmelin. Die SPD hatte ihre Justizpolitikerin seinerzeit als Vizepräsidentin vorgeschlagen - und die CDU/CSU blockierte ihre Wahl so lange, bis Däubler-Gmelin schließlich aufgab.

Die heutige handstreichartige Wahl von Andreas Voßkuhle hat die Schwächen des bisherigen Verfahrens mehr als deutlich gemacht. Jetzt wäre deshalb der richtige Moment für eine neue Weichenstellung.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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