Versteckte Museen: Verwaiste Notaufnahme

Vor 55 Jahren wurde in Marienfelde ein Auffanglager für DDR-Flüchtlinge eröffnet. Heute ist dort ein sehenswertes Museum. Nur die Besucher fehlen.

Es ist Harald Fiss, der die Geschichte dieses Ortes erzählen muss. Er war der letzte Leiter des Notaufnahmelagers in Marienfelde. Von 1985 bis 1990. Und er hat nach dem Mauerfall aus dem Flüchtlingsquartier ein Museum werden lassen. Die Zeit als Leiter des Lagers sei die "interessanteste" in seiner beruflichen Laufbahn gewesen. Der Aufbau des Museums ist das Resultat seines zähen Idealismus. Die Erinnerungsstätte als sein Lebenswerk? Harald Fiss nickt sofort. "Es macht unglaublich stolz, heute durch die Ausstellung zu gehen."

Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde findet man an der Marienfelder Allee 66-80 in Berlin. Die Ausstellung ist jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Führungen durch die ständige Ausstellung finden immer mittwochs und sonntags jeweils um 15 Uhr statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, sie kosten 2,50 Euro, bwz. ermäßigt 1,50 Euro.

Doch man kommt hier nicht einfach so vorbei. Hier unten in Marienfelde gibt es nicht viel, das lockt. Auch die Erinnerungsstätte ist unscheinbar. Ein mehr als schlichter 50er-Jahre-Klotz, vier Stockwerke, kleine Fenster kleben in der glatten Fassade. Links daneben und hinter dem Hauptgebäude Wohnblöcke gleich nüchterner Aufmachung, auf der anderen Straßenseite der Schlecker. Hinter dieser denkbar zurückgenommenen Erscheinung verbirgt sich die Geschichte des Ortes, der von 1953 bis 1990 für rund 1,35 Millionen DDR-Flüchtlinge zur Zufluchtsstätte wurde. Es war hier unten in Marienfelde, wo die DDR ihr Ende nahm und der Westen begann.

"Du hast vielleicht den Osten verlassen, aber wo bist du gelandet? Ist dir nicht aufgefallen, dass wir in einem Lager wohnen mit einer Mauer drumherum, in einer Stadt mit einer Mauer drumherum, mitten in einem Land mit einer Mauer drumherum. Du meinst, hier drinnen, im Innern der Mauern, ist der goldene Westen, die große Freiheit?", schreibt Julia Franck über Marienfelde in ihrem preisgekrönten Roman "Lagerfeuer". Wer hierher gelangte, hatte die innerdeutsche Grenze überwunden und bekam ein zweites Leben irgendwo in der Westrepublik vermittelt. Manfred Krug saß hier, Dieter Hallervorden, Winfried Glatzeder - und auch Julia Franck.

Dennoch scheint der Ort beinah vergessen. Der "Stasi-Knast" Hohenschönhausen, das Mauermuseum in der Bernauer Straße oder der Checkpoint Charlie - das sind feste Ankerpunkte touristischer Expeditionen durch die Hauptstadt. Aber das Notaufnahmelager Marienfelde? 6.500 Besucher zählte das Museum im vergangenen Jahr, an der Bernauer Straße waren es rund 285.000, in Hohenschönhausen über 208.000.

"Es ist schade, sehr schade, dass wir verhältnismäßig wenig wahrgenommen werden", bedauert Bettina Effner, die Leiterin der Erinnerungsstätte. Dabei präsentiere man einen Ort, "an dem die Fronten des Kalten Krieges aufeinanderkrachten", betont die 36-Jährige. Hier sammelten sich nicht nur die Enttäuschten und Verfolgten der DDR, sondern auch die alliierten Geheimdienste und die Stasi. Das Museum habe eine "herausragende Bedeutung", betonte Bernd Neumann, Bundesbeauftragter für Kultur und Medien, im vergangenen Jahr. Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz schwärmt von der "gedenkstättenpädagogisch interessantesten aktuellen Präsentation".

Und Schmitz fügt hinzu: "Ohne das große bürgerschaftliche Engagement des Trägervereins gäbe es diesen Ort als Erinnerungsstätte heute nicht mehr." Berlin bekam das Museum. Harald Fiss das Bundesverdienstkreuz.

Als der damalige Bundespräsident Theodor Heuss im April 1953 das Notaufnahmelager eröffnete, war Fiss gerade einmal acht Jahre alt. Seit die DDR-Regierung ab 1952 die innerdeutsche Grenze abzuriegeln begann, kam es zu massiven Flüchtlingsströmen nach West-Berlin. Noch im Jahr des Mauerbaus erreichten rund 181.000 Flüchtlinge von Januar bis August 1961 Marienfeld. Danach sank die Zahl schlagartig - bis zum November 1989. Den zweiten und letzten Ansturm auf das Lager erlebte Harald Fiss selbst hautnah als Chef. Als die Mauer fiel, kamen bis zu 2.000 Flüchtlinge täglich. Noch am Abend des 9. November wurde eilig eine Senatssitzung einberufen, nach der Fiss nachts um 2 Uhr am Notaufnahmelager vorbeifuhr. "Da standen bereits Leute vor den Häusern", sagt er und schüttelt noch heute den Kopf. "Da wusste ich, jetzt geht es für dich erst richtig los."

Fiss legte Nachtschichten ein, er mietete Zusatzwohnungen in der Großbeerenstraße, er ließ alliierte Soldaten Möbel dorthin schleppen und Zelte für zusätzliche Büros errichten. "Erst nach zehn Tagen bin ich das erste Mal zur Grenze gefahren und habe gesehen, dass sie wirklich offen ist."

Wenn Harald Fiss von damals spricht, zeichnet er seine Geschichten lebendig in den Raum. "Ich weiß noch genau", sagt der Urberliner dann und fasst sich mit der Hand an die Stirn. Dann strahlt das nüchterne Gesicht mit der schmalen Brille und den silberweißen Haaren.

Mit dem Ende der DDR beginnt auch das Ende des Notaufnahmelagers. Als 1993 die letzten DDR-Flüchtlinge das Gelände verließen, diente das Gebäude nur noch als Aufnahmestelle für Spätaussiedler. "Uns war klar, wenn wir jetzt nichts machen, geht dieser Ort verloren", erinnert sich Harald Fiss. Gemeinsam mit ehemaligen Mitarbeitern, Flüchtlingen und Geschichtsinteressierten gründete er einen Förderverein. Zwölf Jahre lang war Fiss, inzwischen zum Referatsleiter in der Senatsverwaltung aufgestiegen, der Vorsitzende des Vereins. Der Enthusiast schrieb Briefe, schüttelte Hände, sammelte Gelder. Schließlich überbrachte die damalige Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) das ersehnte Ja zur Einrichtung des Museums.

Einer der einstige Wohnblöcke diente als Ausstellungsort für erste Fundsachen und Geschichten, die von ehemaligen Mitarbeitern des Lagers aufgeschrieben wurden. "Es hatte einen naiven Charme", erzählt Fiss mit einem Lachen. "Aber die Anforderung an eine ernst zu nehmende Gedenkstätte erfüllte es nicht." Als der Bundestag die Ausstellung 1998 dennoch als "Gedenkstätte von gesamtstaatlicher Bedeutung" einstufte, beschloss der Verein das neue, das professionelle Konzept zu realisieren.

Es ist ein blitzneues Museum, das sich seit 2005 hinter der kargen Fassade auftut. Eine Ausstellung zwischen stählernen Stelen, hinter weißen Türen oder in braunen Schubladen. Der Besucher blickt in Gesichter der Flüchtlinge, hört ihre Fluchtgeschichten und Motive, sieht ihre Koffer, Schuhe und Plüschtiere, die sie auf ihrem Weg begleiteten. Er erahnt die unglaubliche Bürokratie, die das Lager bestimmte: Essensmarken, Wartenummern, Heimausweise, Laufzettel. Ein Schaufenster voller Stempel. Es war ein Lager ohne Namen, die die Flüchtlinge in Marienfelde gegen Nummern tauschten - zum Schutz vor möglichen Stasi-Spitzeln.

Zwölf Türen öffnet der Besucher für die zwölf Stationen des Notaufnahmeverfahrens: von der ärztlichen Untersuchung über die Befragungen durch die alliierten Geheimdienste bis zur Transportstelle und dem letzten Stempel: "Flug eingeleitet". Etwa 900 Exponate sind auf zwei Etagen ausgestellt. Am Ende des Rundgangs stehen ein Tisch, zwei Schränke und nackte, metallene Doppelstockbetten mit original Kratzdecken. Eine rekonstruierte Flüchtlingswohnung.

Es ist nicht der Schauer eines Stasi-Gefängnisses, nicht das Grausen über einen an der Mauer verblutenden Peter Fechter, das einem hier widerfährt. Es ist das verdrossene Drängen aus einem missglückten Staat, das hier lebhaft wird. Ein Ansturm, der bisweilen die Erwartungen aller damaligen politischen Kräfte und die Bürokratien dieses kleinen Lagers bei weitem überdehnte. Und Marienfelde ist auch ein Dokument der Versuche des DDR-Staates, diese größtmögliche Ablehnung zurückzuweisen, zu verschleiern, zu boykottieren.

Auch nach dem Ausbau bleibt Marienfelde ein Museum im Werden. Das zeigt die erst im vergangenen Monat abgeschlossene, vollständige Inventarisierung der im Lager aufgefundenen oder nachträglich zugereichten Sammlungsgegenstände. 39.000 Objekte habe man in den vergangenen zwei Jahren archiviert, berichten die Dokumentarinnen Christiane Necker und Doris Müller-Toovey. Möbel, Fotos, Hinweisschilder, persönliche Habseligkeiten, die die DDR-Emigranten bei ihrer Flucht mit sich nahmen. Die Frauen führen durch vier Räume im Dachgeschoss, ein jeder voller Schränke und Regale. Sie holen Rasiersets aus den Schubläden, zeigen Geschirr, Schreibmaschinen, Strumpfhosen, Koffer. Ein Paar rostige Skier liegen oben auf einem Schrank, daneben lehnt ein Schlitten. Und immer wieder Stempel. "Die haben wir in Tausender-Stückzahlen gefunden", berichtet Müller-Toovey.

Man wolle nicht rasten, erklärt Leiterin Bettina Effner. Im August habe man bereits ein neues Projekt gestartet, die Dokumentation von rund 230 Ordnern mit Verwaltungsakten des ehemaligen Lagers.

Was jetzt noch fehlt in Marienfelde, sind die Besucher. Effner ist hoffnungsfroh: "Wir befinden uns im Aufschwung." Dieser soll durch die geplante Kooperation mit dem Museum in der Bernauer Straße in der gemeinsamen Stiftung "Berliner Mauer" noch beschleunigt werden. "Wir müssen mehr ins Zentrum rücken, zeigen, dass Marienfelde in zwanzig Minuten zu erreichen ist und keinen Tagesausflug bedeutet", sagt Effner.

Auch optisch geht ihre Erinnerungsstätte in die Offensive: Anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Auffanglagers wird am kommenden Montag ein Mauersegment vor dem Museum aufgestellt.

Harald Fiss jedenfalls ist von einem künftigen Erfolg Marienfeldes überzeugt. "Wir bekommen so viel Rückenwind. Die Besucherzahlen werden steigen." Er selbst aber will sich aus der Arbeit zurückziehen. "Meine Frau hat jetzt auch mal ein Anrecht auf mich", sagt der 63-Jährige lächelnd. Den Vorsitz des Trägervereins hat er bereits im letzten Jahr geräumt. Harald Fiss Werk ist vollbracht.

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