Die Künstler und die Institutionen: Posthume Verklärung

Den Typ des verehrten "Künstler-Künstlers" scheint es heute oft nur in einer Form zu geben: In der Retrospektive, wie zum Beispiel André Cadere.

Der Hirtenstab von André Cadere, hier in der Kunsthalle Baden-Baden. Bild: dpa

Im Zuge des vielbeschworenen Kunstbooms hat auch der Typus des "Künstler- Künstlers" wieder Konjunktur. Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um einen Künstler für Künstler, der in erster Linie von zumeist jüngeren KollegInnen geschätzt wird. Während ihm InsiderInnen schon zu Lebzeiten Respekt zollen, setzt seine institutionelle Würdigung in der Regel erst posthum ein. Da er über ein hohes Maß an Reputationskapital verfügt, eignet er sich besonders gut zur retrospektiven Verklärung. Anekdoten und Legenden säumen folglich seinen Weg. Mit dem geringen Marktwert seiner Arbeit hängt es aber auch zusammen, dass seine Position - obgleich institutionell begehrt - für junge KünstlerInnen nach meiner Beobachtung heute wenig erstrebenswert ist. Je stärker der ökonomische Druck, desto weniger attraktiv die Aussicht, allein als Geheimtipp unter Insidern sein Dasein zu fristen.

Als Beispiel für typische Künstler-Künstler wären dann Oyvind Fahlström, Bas Jan Ader, Paul Thek oder André Cadere zu nennen. Die erste Phase ihrer institutionellen Wiederentdeckung setzte in den späten 90er-Jahren ein, angestoßen durch die Fürsprache jüngerer KünstlerInnen wie Cosima von Bonin, Chris Williams oder Mike Kelley, die sich demonstrativ auf ihre Arbeiten bezogen. Das ist auch das Schicksal jedes Künstler- Künstlers - dass er künstlerisch etwas vorbereitet, dessen Ernte dann andere einfahren, wenn auch in Form einer Hommage an ihn. Nur hat es der Künstler-Künstler definitionsgemäß gar nicht darauf angelegt, dass sich sein künstlerisches Renommee noch zu Lebzeiten auszahlt. Und das ist es, was ihn so sympatisch macht, so anfällig für posthume Mystifikationen. Der bedeutende Anteil, den jüngere KollegInnen an der Durchsetzung dieser Künstler-Künstler hatten, scheint in dem aktuell beobachtbaren Zyklus ihrer Wiederentdeckung - Thek im ZKM-Karlsruhe, Cadere in der Kunsthalle Baden-Baden - jedoch kaum eine Rolle zu spielen. Diese historisch unzulängliche Präsentation spiegelt aber die Tatsache wider, dass Namen wie Thek oder Cadere im Kunstbetrieb längst nicht mehr unbekannt und vollständig kanonisiert sind. Im Vergleich zu der etwas diffus wirkenden Thek-Ausstellung im ZKM, die Thek zum Ahnherren eines Kanons stilisierte, der einmal mehr von Martin Kippenberger zu Jonathan Meese reicht, wies die Cadere-Ausstellung in Baden-Baden ein hohes Maß an kuratorischer Sorgfalt auf. Hier hielt man sich entweder strikt an die von Cadere gemachten Vorgaben, oder man rekonstruierte die ursprünglichen Platzierungen seiner legendären Holzstäbe, die sich aus bemalten zylindrischen Segmenten zusammensetzen. Da diese Stäbe grundsätzlich eher an der Peripherie der ansonsten leeren und in elegantem Weiß erstrahlenden Räumlichkeiten der Kunsthalle Baden-Baden zu finden waren, rückte ihre Materialität erst recht ins Zentrum. Ganz im Sinne Caderes konnte man sie nun als endlose Malerei in Augenschein nehmen. Lauter Farbflecken auf hellem Grund.

Wie lässt sich jedoch das augenscheinlich gestiegene institutionelle Interesse an einem Künstlertypus erklären, der in den notorischen Rankings erfolgsfixierter Kunst-und Lifestylemagazine niemals auftauchen würde? Ist die institutionelle Sphäre dabei, sich vom Markt nicht länger die Bedingungen diktieren zu lassen und dies in Zeiten, die als markthörig verschrieen sind? Ja und nein. Zunächst einmal stellt ja auch die institutionelle Sphäre einen Markt dar - den Markt der Institutionen. Aus dieser Sicht betrachtet, könnte man die neuerliche Popularität des Künstler-Künstlers auch im Sinne einer Ausweitung dieser Marktzone interpretieren. Denn auch Institutionen haben die Angewohnheit - wie Märkte im Allgemeinen - Grenzen einzureißen, um sich noch das scheinbar Marktfernste einzuverleiben. Die neuerliche Popularität des Künstler-Künstlers ließe sich nach dieser Logik auch als Indiz für Nachschubprobleme lesen. In einer Situation, in der zumal die notorisch markterfolgreichen Künstler mit ihrer Produktion kaum nachkommen, halten Museen und Galerien derzeit verstärkt nach historischem Material Ausschau. Mit Rekurs auf die Vergangenheit lässt sich zudem die Wertigkeit einer Zukunft sicherstellen, die sich ja stets auf Genealogien und Abfolgen beruft. Es ist aber vor allem eine kunstpolitische Agenda, die das institutionelle Interesse an Figuren wie Bas Jan Ader bislang motivierte. Regelmäßig wurde er zum Vater jenes "romantischen" Konzeptualismus erklärt, der den Gefühlen zu ihrem Recht verhelfen will, was letztlich auf die Entpolitisierung der Conceptual Art hinausläuft. In der aktuellen Cadere-Ausstellung in Baden-Baden wird der Akzent jedoch dankenswerterweise weniger auf den "romantischen" als auf den institutionskritischen Cadere gelegt. Dadurch hebt sie sich zunächst einmal wohltuend von den Romantisierungsbestrebungen der letzten Jahre ab. Caderes Praxis, sich mit einem seiner farbigen Holzstäbe bewaffnet (den "barres de bois rondes") in den 70er-Jahren in Ausstellungen zu begeben und diese dort unerlaubt abzulegen, wird hier als eine subversive Form der Institutionskritik vorgestellt. Jeder illegal in Ausstellungsräumen platzierte Stab käme demnach einer subversiven Unterwanderung gleich und würde den Finger auf die Wunde institutioneller Ausschlüsse legen. Ich denke jedoch, dass sich Cadere mit seinen Aktionen nicht wirklich gegen die Institution Museum gewendet hat, von der ohnehin zu fragen wäre, ob sie angesichts ihrer zunehmenden Ökonomisierung nicht eher zu schützen und zu verteidigen sei. Zudem machte Cadere mit seinem regelmäßigen Auftauchen auf Großausstellungen - etwa auf der documenta 5 im Jahre 1972 - keinen Hehl aus seinem Begehren, von dieser Institution endlich zur Kenntnis genommen zu werden. Er zwang ihr seine Präsenz und die seiner Stäbe auf. Beides, Person und Arbeit, lässt sich bei Cadere grundsätzlich nicht trennen. Wie bei zahlreichen anderen Künstler-Künstlern auch ist der performative Zug seiner Arbeit extrem ausgeprägt. Man könnte sagen, dass sich in Caderes Praxis die zunehmende Subjektförmigkeit der Kunst, mit der wir uns heute konfrontiert sehen, ebenso ankündigt, wie das Zum-Objekt-Werden des Künstlers. Denn so wie Caderes Stäbe auf seine persönliche Anwesenheit angewiesen waren, hat er sich selbst objekthaft inszeniert: Der Mann mit dem Holzstab. Besonders deutlich wird dieser verlebendigende Zug seiner Arbeit in Caderes Porträt "Gilbert & George" (1974): zwei vertikal an der Wand nebeneinander hängende bemalte Stäbe, die leicht gekrümmt herabfallen. Sie sind als Hommage an Gilberts & Georges "Living Sculpture" ebenso zu lesen, wie sie mit dem Leben dieses Künstlerpaars angereichert worden sind.

Wie kann man eine solche Praxis, die so sehr auf die Präsenz des Künstlers angewiesen ist, jedoch institutionell würdigen? Für die imaginäre Anwesenheit Caderes sorgte in Baden-Baden ein Film, der Cadere im Zuge einer seiner "promenades" über die Avenue des Gobelins schreitend zeigt. Er schulterte seinen Stab, so wie Jesus sein Kreuz auf sich nahm. Der kunsthistorische Topos des Künstlers als vagabundierender Hirte (Courbet, Beuys) wird ebenfalls aufgerufen. Man kann sich auf der Basis dieser Filmausschnitte gut vorstellen, dass ihn die Kunstwelt zunächst als notorischen Nerver erlebte. Unvermittelt tauchte er auf Ausstellungen auf, um seinen Stab beispielsweise neben einem Warhol-Bild zu platzieren. So als nehme er es für sich in Anspruch, auf Augenhöhe mit Warhol zu operieren. Prompt wurde er regelmäßig des Hauses verwiesen und dazu aufgefordert, seinen Stab wieder an sich zu nehmen. Doch sein Insistieren lohnte sich auf Dauer, womit einmal mehr bewiesen wäre, dass der Kunstbetrieb ein soziales Universum ist, in dem sich Zähigkeit auszahlt. Wenn jemand einfach nicht daran denkt, von selbst zu verschwinden, dann gehört er irgendwann dazu. Man sollte an dieser Stelle aber auch die subtile visuelle Sprache seiner Eingriffe hervorheben. Jeder Stab ist handbemalt, was man ihm auch ansieht. Eine Mischung aus Rechenschieber und ins Regressive gewendeter Carl André. Dazu passt, dass sich André Caderes Name anagrammatisch als spielerische Umkehrung von Carl Andrés Namen lesen lässt. Als deutliche Kritik an der rationalen Strenge der Minimal Art lässt sich auch der von Cadere stets hervorgekehrte "Fehler" lesen. Jeder Stab verdanke sich einem zuvor festgelegten permutativen System, in das ein Fehler - etwa in der Farbfolge - eingebaut worden sei. Aus heutiger Sicht betrachtet, findet sich hier eine Urszene jenes Kults des Fehlerhaften, der mittlerweile zum künstlerischen Standard von Warhol bis zu Christopher Wool gehört. Fehler können unbeabsichtigt auftreten und konserviert oder bewusst provoziert werden. Die Attraktion des Fehlers hat damit zu tun, dass sich in ihm ein letzter Rest jenes subjektiv und arbiträr verfahrenden Künstlersubjekts bewahrt, das ja in jeder Überantwortung an ein wie auch immer geartetes (permutatives oder aleatorisches) System eigentlich preisgegeben wird. Und einem System ist Caderes Arbeit ja insofern unterworfen, als sich die Länge jedes seiner farbigen Zylindersegmente aus ihrem Durchmesser ergibt. Allein der Fehler bietet hier ein Schlupfloch für jenes Künstlersubjekt, das durch seine Hintertüre wieder auf den Plan tritt.

Cadere war besonders virtuos, was die beiläufige Platzierung seiner Stäbe betraf. Wie nebenbei legte er sie auf Fußleisten oder auf Türrahmen ab. Zwar mutet es ein wenig gespenstisch an, wenn diese Virtuosität heute wie in Baden-Baden institutionell produziert wird. Gleichwohl wird auf diese Weise deutlich, dass das demonstrativ Zurückgenommene seines Verfahrens jene Idee der scheinbaren Beiläufigkeit beförderte, die heute ein Künstler wie Michael Krebber zur Perfektion getrieben hat. Das Subtile, sich nicht in den Vordergrund Spielende lässt sich dabei als Allegorie des am Rande operierenden Künstlers lesen. Nur vermag bekanntlich ein locker an der Wand lehnender Holzstab viel mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen als ein traditionell auf einem Sockel platzierter.

Cadere verließ die Institution regelmäßig, um zu Präsentationen auf der Straße oder an anderen Orten einzuladen. Auch in diesem Fall wurde die Institution weniger geschwächt als gestärkt, und zwar insofern, als er zu einer Ausweitung ihres Einzugsbereiches entscheidend beitrug. Auf seinen Einladungskarten wurde etwa der Ort und die Zeit der Präsentation stets genau angegeben - ob auf offener Straße, in unterschiedlichen Locations, etwa auf dem New Yorker Westbroadway oder in Londoner Pubs. Statt als institutionskritisch würde ich sein Verfahren eher als institutionsreflexiv bezeichnen wollen, und zwar in dem Sinne, dass es der zunehmenden Aufgeschlossenheit der Institution für Boheme-Szenarien und Undergroundversprechen Rechnung trug. Seine Arbeit half der Institution anders gesagt dabei, ihren Aktionsradius auszudehnen. Als er etwa im Jahre 1975 ins ICA-London zu einer Ausstellung eingeladen wurde, organisierte er parallel dazu mehrere Präsentationen seines Stabes in den maßgeblichen Londoner Künstlerkneipen, wo er naturgemäß Kontakte zu anderen Künstlern knüpfte. Es gehört ja zum hervorstechendsten Merkmal des Künstler-Künstlers, dass er auf Präsenz, informelle Kontakte und Kommunikation setzen muss. Nur so kommt sein guter Ruf unter Kennern zustande. Man kennt und schätzt ihn in Künstlerkreisen, und der Ort dieser informellen Ökonomie war bekanntlich die Kneipe, heute wohl eher der Club. Cadere ermöglichte es der Institution, eine Brücke zu diesen aus institutioneller Sicht begehrenswerten Orten zu schlagen. Hier ist man an der Quelle, hier können jene Beziehungen geknüpft werden, die in einer "Kontaktwelt" (Boltanski/Chiapello) hoch im Kurs stehen. Und hier formiert sich jenes Wissen, das in einer wissensbasierten Ökonomie - und mit einer solchen haben wir es augenblicklich zu tun - hoch im Kurs steht.

War Cadere nun eine Art Künstler-Prophet, der sich auf die Realitäten des Netzwerkkapitalismus früh einzustellen wusste? Weit gefehlt. Denn ihm lag gar nichts daran, den hohen Symbolwert seiner Arbeit in ökonomisches Kapital zu transformieren. Sein Verhältnis zum Kunstmarkt war von Widersprüchen gezeichnet. Einerseits weigerte er sich, in der üblichen Weise auszustellen und mit Galerien zusammenzuarbeiten. Andererseits hatte er gegen den gelegentlichen Verkauf seiner (nebenbei bemerkt spottbilligen) Holzstäbe nichts einzuwenden. Der Verkauf seiner Arbeit spielte aber immer nur eine untergeordnete Rolle. Eine solche Haltung, die auf Achtungserfolg setzt und sich mit diesem begnügt, scheint mittlerweile keine Option mehr zu sein. Schon die gestiegenen Lebenshaltenskosten und der in jeden Aspekt des Lebens hineinreichende Markt führen dazu, dass sich kaum jemand die Position des Künstler-Künstlers leisten kann. Es sei denn, er wird von zu Hause finanziert. Aber selbst dann fällt es schwer, die Position des Künstler-Künstlers auf Dauer durchzuhalten. Denn um einen herum manifestiert sich mit Wucht die Macht des Markterfolgs, der ja zunehmend symbolische Bedeutung generiert, mithin mit künstlerischer Relevanz gleichgesetzt und verwechselt wird. Wer wollte sich da schon mit einer rein symbolischen Anerkennung - etwa durch befreundete Künstler - begnügen? Besser, man sorgt dafür, dass sich der Achtungserfolg noch zu Lebzeiten in ökonomisches Kapital transformiert. Mit Cadere kann aber auch auf die Grenzen jenes Selbstdarstellertums verwiesen werden, an dem heute kein Weg vorbeizugehen scheint. Er trug seine Stäbe schließlich bei jeder Gelegenheit mit sich, sein Körper war ihr Träger. Für diese Verausgabung seines Lebens zahlte er jedoch - wie zahlreiche andere Künstler-Künstler, die weniger auf Produkte denn auf ihre eigene Person setzen, einen hohen Preis. Er starb früh, mit 44 Jahren.

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