Barghuti über Vetternwirtschaft und Frieden: "Raketen sind nutzlos"

Der unabhängige Politiker Mustafa Barghuti will Klüngelwirtschaft in der palästinensischen Politik bekämpfen. Frieden mit Israel sei nur möglich, wenn das Apartheidsystem fällt, das Israel in Palästina etabliert hat.

"Gewalt bringt uns nicht weiter": Barghuti hält nichts von Raketenbeschuss aus den Palästinensergebieten. Bild: dpa

taz: Herr Barghuti, Sie haben vor mehr als 25 Jahren medical relief mitbegründet, eine NGO, die die Gesundheitsversorgung der Palästinenser zu verbessern sucht. Ist sie heute besser?

Vier Tage nach der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens hat Israel am Dienstag eine einmalige Lieferung von Treibstoff und Medikamenten gestattet. Damit hatten 800.000 Palästinenser in Gaza wieder Strom. Ein Mitarbeiter des israelischen Verteidigungsministeriums bestätigte, zwei Grenzübergänge seien für Lastwagen mit Treibstoff sowie für Lieferungen von Medikamenten geöffnet worden.

Israel hatte am Freitag als Reaktion auf den fortwährenden Raketenbeschuss durch militante Palästinenser den Gazastreifen abgeriegelt. Daraufhin musste das einzige Kraftwerk im Gazastreifen abgeschaltet werden.

Nach den Worten des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert soll die Blockade erst aufgehoben werden, wenn militante Palästinenser den Beschuss Israels einstellen. Am Dienstagmorgen schlugen nach Rundfunkberichten erneut vier aus dem Gazastreifen abgefeuerte Kassam-Raketen im israelischen Grenzgebiet ein.

Mustafa Barghuti: Nein, schlechter. Ärzte werden an Checkpoints abgewiesen, Kranke kommen nicht zu unseren Gesundheitszentren durch. Wir haben mit der John-Hopkins-Universität aus Baltimore eine Studie über Kindersterblichkeit in Palästina gemacht. Sie liegt bei 20 von 1.000, das heißt 20 von 1.000 Neugeborenen sterben, bevor sie ein Jahr alt sind. Ein Fünftel dieser Babys starb wegen der Checkpoints und der Mauer, die Israel durch Palästina baut.

Die Verschlechterung der Versorgung liegt nur an der Praxis der israelischen Besatzung?

Nein, keineswegs. Es liegt auch an Korruption und dem ungebrochenen Nepotismus der Autonomiebehörde. In Frankreich gibt es im Gesundheitsministerium einen Direktor für Gesundheit - in Palästina, einem etwas kleineren Land, gibt es 64 solcher Direktoren. Kein Wunder, dass dort intern Desorganisation herrscht.

War das immer so?

Die Wahlen waren wirklich ein Schub gegen diesen Nepotismus. Doch der Krieg zwischen Fatah und Hamas und die Trennung von Gaza und Westjordanland haben eine ernsthafte Regression demokratischer Werte mit sich gebracht.

Wie ließe sich denn die Korruption der Autonomiebehörde wirksam bekämpfen?

Korruption ist ein Patronagesystem und Klientelismus. Der Regierungsapparat und die internationale Hilfe werden missbraucht, um politischen Einfluss zu sichern. Das tut nicht nur die Fatah, sondern auch die Hamas. Was wir brauchen, ist eine transparente Verwaltung und eine echte Gewaltenteilung.

Ein schönes Ziel. Wie wollen Sie es erreichen?

Ein Beispiel: Stipendien für Studenten werden so vergeben: Wer Fatah ist, bekommt es - wer nicht Fatah ist, nicht. Bei der Hamas läuft es genauso. Im Parlament habe ich vorgeschlagen, einen unabhängigen Fonds zu gründen, der Stipendien nach Leistung vergibt. Dieses Gesetz wurde auch verabschiedet - leider existiert der Fonds bis heute nicht, wegen des Zusammenbruchs der Regierung.

Israel behauptet, dass Mauer und Checkpoints notwendiger Schutz sind und dass es deswegen keine Selbstmordattentate mehr in Israel gibt.

Das sind Lügen. Fakt ist, dass das letzte Selbstmordattentat vor zwei Jahren passierte. Seit November gilt ein Waffenstillstand, den ich gemeinsam mit Fatah-Chef Abbas und Hamas-Chef Hanijeh ausgehandelt habe. Dieser Waffenstillstand hielt nur zwei Monate, weil Israel seine Angriffe fortsetzte. Israel will einen unilateralen Waffenstillstand, der nur für die Palästinenser gilt.

Aber Hamas feuert von Gaza aus noch immer Raketen auf israelisches Territorium ab.

Ja, stimmt. Aber Israel hat im letzten Jahr Palästina insgesamt 3.307-mal angegriffen, mit Flugzeugen, Panzern, dem Einmarsch von Soldaten, gezielten Tötungen. Mehr als die Hälfte der Angriffe - 1.855 - galten dem Westjordanland, 88 Bürger wurden dort von der israelischen Armee getötet, fast tausend verletzt. Vom Westjordanland werden keine Raketen abgefeuert. Warum also diese Angriffe?

Sie meinen, dass nur Israel der Aggressor ist?

Ich sage, dass die Zahlen für sich sprechen. Im Jahr 2007 wurden zehn Israelis getötet, darunter fünf Soldaten und ein Siedler. In derselben Zeit tötete die israelische Armee 404 Palästinenser, die Hälfte davon Zivilisten. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 40. Von 2000 bis 2005 war das Verhältnis noch 1 zu 4. Wer also braucht in diesem Konflikt mehr Sicherheit? Der Besatzerstaat Israel verfügt über mehr Atomwaffen als Frankreich, über eine größere Luftwaffe als Großbritannien und ist der viertgrößte Waffenexporteur der Welt. Israel exportiert erfolgreich Sicherheits- und Waffensysteme - und Palästina ist offenbar ein brauchbares Experimentierfeld.

Was erwarten Sie von den Verhandlungen zwischen Abbas und Olmert?

Nichts. So wie alle Verhandlungen samt und sonders nichts für die Palästinenser gebracht haben. Faktisch war es bisher so, dass die Israelis sich fast immer genehme, schwache und überforderte Verhandlungspartner auf der palästinensischen Seite ausgesucht haben. Das ist kurzsichtig. Nur wenn Israel starke Verhandlungspartner akzeptiert, die für ganz Palästina sprechen, werden sie wirklich einen dauerhaften Frieden bekommen. Dafür wird Israel aber viel mehr Konzessionen machen müssen als bislang. Aber wer ist denn schon Abbas? Ein kleiner Herrscher in einem Bantustan. Wer ist Hanijeh, der in Gaza regiert? Auch nur ein Herrscher in einem isolierten Bantustan. Was sind das für Regierende, die ohne Genehmigung des israelischen Militärs nicht von Ramallah nach Bethlehem fahren können?

US-Präsident George W. Bush hat Israel aufgefordert, die "Outposts", seine illegalen Siedlungen im Westjordanland, zu schließen. Ist das kein Schritt nach vorne?

In den Outposts, die auch Israel für illegal hält, leben etwa 3.000 Siedler. Doch in den Siedlungen, die Israel im Westjordanland und in Ostjerusalem gebaut hat, leben 447.000 Siedler in 133 Siedlungen. Ich denke, wir werden erleben, dass die Auflösung von ein paar kleinen Outposts als großes Zugeständnis Israels verkauft wird - während die großen Siedlungen im Westjordanland weiter wachsen.

Was erwarten Sie von der EU?

Die EU könnte erklären, dass sie ökonomische Assoziationsverträge mit Israel an eine Bedingung knüpft: den Stopp des Siedlungsbaus. Nicht den Rückbau, nur den Stopp. Ist das zu viel verlangt? Die 560 Checkpoints, Mauer und Siedlungen im Westjordanland bilden ein System von Apartheid. Israel will uns einen Staat anbieten, der keiner ist. Von mir aus kann ein palästinensischer Staat entmilitarisiert sein, wenn es internationale Garantien gibt. Aber ein Bantustan, in dem wir Bürger zweiter Klasse sind, ist inakzeptabel.

Glauben Sie, dass Apartheid die richtige Metapher für die Lage in Palästina ist?

Ich weiß, dass Apartheid ein harter Ausdruck ist. Aber es ist so: Das jährliche Durchschnittseinkommen eines Israelis liegt bei 24.500 Dollar, im Westjordanland beträgt es 1.000 Dollar, in Gaza 800. Trotzdem sind wir durch Verträge verpflichtet, Produkte zu israelischen Marktpreisen zu kaufen, denn es gibt eine Marktunion. Wir sind verpflichtet, alle unsere Steuern an Israel zu entrichten - Israel kann entscheiden, ob es uns das Geld wiedergibt oder nicht. So wurde die letzte palästinensische Regierung abserviert - Israel hat einfach das Geld einbehalten. Und: Wir dürfen nur 50 Kubikmeter Wasser verbrauchen, israelische Siedler dürfen 2.400 Kubikmeter verbrauchen, von unserem Wasser wohlgemerkt. Wirklich krass aber ist, dass wir unser eigenes Wasser Israel auch noch abkaufen müssen. Wir zahlen 5 Schekel (ca. 1 Euro) per Einheit, Israelis zahlen 2,4 Schekel. Wir zahlen 13 Schekel für Strom, Israelis 6,3. Wie nennen Sie das, wenn nicht Apartheid? Und wenn Sie das nicht überzeugt, schauen Sie sich eine Landkarte des Westjordanlands an: ein von Siedlungen, Straßen und der Mauer zerfurchtes Gebiet. Sieht verdächtig aus wie ein Bantustan, oder?

Sehen Sie keinen Unterschied zwischen der Rassentrennung in Südafrika und der israelischen Besatzungspraxis?

Doch, die Bantustans in Südafrika waren größer. Was mich zornig macht, ist, dass all dies schon seit langem bekannt ist. Aber es interessiert die globalen Medien nicht. Es gibt eine Selbstzensur und man will sich nicht mit der israelischen Lobby anlegen. Und es hat sich die falsche Ansicht durchgesetzt, dass sich in diesem Konflikt zwei gleichwertige Kontrahenten gegenüberstehen, die beide gleichermaßen schuld sind. So ist es nicht. Es geht hier um die längste Besatzung in der Moderne.

Wie könnte der Konflikt gelöst werden?

Das Einzige, was Israel stoppen wird, ist gewaltfreier Widerstand gegen die Besatzung. Gewalt hilft uns nicht. Raketen sind nutzlos. Jeder militärische Angriff von palästinensischer Seite, selbst wenn er gerechtfertigt sein sollte, ist selbstzerstörerisch und schädlich für unseren Kampf. Zweitens müssen wir eine starke internationale Solidarität schaffen - für Palästina und gegen Apartheid. Das Vorbild kann der Kampf in Südafrika sein.

Und für diesen gewaltfreien Kampf finden Sie in Palästina genug Mitstreiter?

Aber ja. Der gewaltfreie Widerstand wächst. In Bilin haben die regelmäßigen Proteste gegen die Mauer angefangen. Mittlerweile gibt es 15 Orte, in denen dasselbe geschieht. Ich habe sogar vor Hamas-Leuten über gewaltfreien Widerstand geredet.

Reden Sie sich die Lage in Palästina nicht schön? Viele sind doch resigniert und politikmüde - vor allem seit dem Krieg zwischen Fatah und Hamas.

Ja, die Palästinenser sind erschöpft. Wegen der Besatzung, wegen der wirtschaftlichen Malaise. Das stimmt. Aber Gewaltfreiheit hat Konjunkturen - und auch eine Geschichte in Palästina. Sie war das bestimmende Konzept der ersten Intifada 1987. Damals hat die Intervention der PLO von außen sie zerstört. Die autokratische Führung hat die gewaltfreien Bewegungen erstickt. Die Autokraten setzen auf Militär, weil Militär einfach zu kontrollieren ist, populäre gewaltfreie Bewegungen hingegen fußen auf demokratischer Beteiligung. Deshalb fürchten autokratische Organisationen sie.

Wir treffen uns hier in Ramallah, knapp zwanzig Kilometer entfernt von Jerusalem. Dürfen Sie nach Jerusalem?

Nein. Wohl weil ich dort geboren bin.

Wann waren Sie zum letzten Mal dort?

Neulich, illegal allerdings. Die Republik Italien wollte mir einen Orden verleihen. Ich wurde eingeladen, um ihn entgegenzunehmen. Das Konsulat fragte, ob ich jemand mitbringen wollte. Ja, noch 14 Personen. So ersuchte das Konsulat beim israelischen Militär um 15 Genehmigungen nach. Sie bekamen 14 - für alle außer für mich.

Und dann?

Dann war ich wütend. Ich bin in Jerusalem geboren und habe dort 14 Jahre als Arzt gearbeitet. Sie haben kein Recht, mich so zu schikanieren. Ich habe mich an dem Abend durch den Checkpoint geschmuggelt. Sie sehen: Die Mauer ist völlig sinnlos. Wer sie wirklich überwinden will, schafft das.

Haben Sie denn noch politische Partner in Israel, mit denen Sie reden?

Ja, klar. Die Friedensbewegung, Politiker wie Jossie Belin von Meretz, auch Politiker der Arbeitspartei.

Ist die israelische Linke mächtiger oder machtloser als früher?

Machtloser, definitiv. Aber die Dinge ändern sich. Ich glaube, wir müssen den Israelis den Spiegel vorhalten. Und auf dem Spiegel steht: Apartheid. Und wie in Südafrika wird sich am Ende etwas fundamental ändern. Es wird lange dauern, es werden viele kleine Schritte nötig sein. Wir werden uns um internationale Solidarität bemühen. Und als Allerletzte werden, wie in Südafrika, die USA ihre Haltung ändern

Aber es gibt hier keinen ANC.

Die Geschichte wiederholt sich nicht exakt. Es gibt hier etwas Ähnliches wie den ANC, wenn auch zersplittert in verschiedene Gruppen. Wir müssen allerdings die PLO aus der Kooperation mit den Besatzern herauslösen. Auch das wird passieren. Am Ende werden wir uns durchsetzen.

INTERVIEW: KARIN GABBERT & STEFAN REINECKE

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