Diaspora durch Jugendkultur: "Woodstock machte einen fremd"

Die Jugendkultur seit den 60ern kann eine Art freiwillige Diaspora bilden, meint der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Musik fungiert als exterritoriales Homeland.

Hübsch bunte Flucht - Hippiekultur ist Dauerbrenner seit gut 40 Jahren. Bild: reuters

taz: Herr Diederichsen, war die Jugendkultur in ihren Anfängen eine "diasporische" Bewegung im Sinne eines Absetzprozesses gegen eine kulturelle Herkunft? Man hielt der kulturellen "Heimat" ja eine eigene, dissidente Kultur entgegen, die diasporisch - wenn auch nur im zeitlichen, im generationalen, Sinne - war.

Diedrich Diederichsen: Auf dem Territorium des ehemaligen Nazi-Reichs war sie das im doppelten Sinne, also auf besonders dramatische Weise: als US-amerikanischer Import und als antiautoritäre und sexualisierte Gegenkultur. Und sie war verbunden mit imaginären Freunden auf der anderen Seite von Atlantik und Ärmelkanal. Aber diese stark inhaltliche Bestimmung der Jugendkultur als Gegenkultur gegen Nazi-Eltern, politisch verursachte provinzielle Enge und Autorität an sich verdeckte lange die strukturelle Seite. Ich meine den Einsatz bestimmter Medien und Kulturtechniken, bestimmter Ästhetiken. Im Dreieck von erstens Abhauen, also Vereinzeln, zweitens Streunen, also sich empfänglich machen für Erlebnisse und Kontakte, und schließlich drittens Sich-Verabreden, also Techniken der Bildung neuer Gemeinschaften, kann man etwas Diasporisches entdecken.

Heißt das, man bewegte sich in der vorherrschenden Kultur gewissermaßen wie in der Fremde?

Man machte sich seinen Familien fremd, ist aber auch nicht für die Rituale mehr empfänglich, die deren Lebenswelt für das pubertäre oder adoleszente Fremdwerden traditionell zu bieten hat. Man ist auf neue Weise, fundamentaler fremd.

Hatten diese neuen Formen der Zusammengehörigkeit im Unterschied zu der Gesellschaft nicht auch etwas Anachronistisches? Woodstock als Metapher, wie sich eine globale Bewegung als Gemeinschaft erlebt?

Woodstock wurde ja bald von verschiedener Seite mit dem Begriff der Nation in Verbindung gebracht, einer Nation ohne Territorium und daher also einer Diaspora. Ein anderer und schon früher gebräuchlicher Begriff war der des Stammes, spätestens seit dem "Gathering of the Tribes" in San Francisco, zwei Jahre vor Woodstock. Im Plural der Tribes war die Verschiedenheit der gegenkulturellen Gruppen enthalten, während in der Nation eine neue Einheit beschworen wurde.

Kann man sagen, dass mit der massenkulturellen Subkultur nicht einfach nur Nischen entstanden, sondern dass mit diesem Phänomen die gesamte Vorstellung einer homogenen, hegemonialen Hochkultur verabschiedet wurde?

Das war, glaube ich, eher eine Diagnose oder eine Hoffnung aus der Ferne von Hochschulen und Feuilletonredaktionen, eine sehr berechtigte, wie man heute weiß. Die Kultur als Gegenstand von Sorge oder Begehren war den Akteuren der Gegenkulturen, der Hippies wie der Politisierten eher unbekannt. Die hatten nur sehr viel größere und sehr viel naheliegendere Ziele: entweder den nächsten Kick, das nächste Gathering, das nächste Konzert, also die Pflege der eigenen Kultur im Zwischenzustand. Oder aber eben tibetanische Weisheit, Weltrevolution, eine kommende Gemeinschaft.

Wobei diese Gemeinschaft weltweit verstreut ist, ihr Homeland ist die Musik - eine freiwillige und entterritorialisierte Diaspora?

Ja, die Musik war eine Weile in der Lage, tatsächlich Zusammenhänge zu stiften, nach innen und nach außen, als Einschluss und Ausschluss. Das erweiterte auch die auf allerlei Verhaltenskodizes und am liebsten persönliche Bekanntheit aufbauenden, bald recht provinziell und reaktionär werdenden Gemeinschaftsvorstellungen in einem attraktiven Sinne. Zugleich belastete es die Musik gewaltig. Was, wenn doch nicht alle dasselbe denken, die dieselbe Musik hören? Und so kam es ja auch. Heute glaubt man auch nur noch an einen Teil der Musik als Homeland, nämlich an ihre Fähigkeiten, Grenzen zu ziehen und Leute auszuschließen.

Aber hat die Jugendkultur, indem sie ihre eigenen Differenzen erfand, nicht deutlich gemacht, dass kulturelle Unterschiede eben nicht substanziell sind?

Ja und nein. In dem Maße, in dem es zu so einer Entsubstanzialisierung gekommen ist, mussten aber die Zeichen der Differenz für die kulturellen und politischen Unterscheidungen selbst einstehen, in einem fast hysterischen Sinne.

Welche Differenzen etwa?

Die Spur einer Unterscheidung von richtigen und falschen Leben, die man zeitweilig im Schnitt einer Jeans ganz sicher zuverlässig aufzufinden glaubte, führte etwa später zur Logokultur. Deren Kunden sind ja auch eine diasporische Gemeinschaft, wenn man so will

Andererseits gibt es eine Affinität der jugendkulturellen selbst gesetzten Diaspora zu gewachsenen Diaspora-Gemeinschaften - etwa zu der Black Diaspora. Ist das ein Widerspruch?

Streng genommen besteht ja die afrikanische Diaspora aus allen Menschen afrikanischer Herkunft, die um den Erdball verstreut und außerhalb von Afrika leben. Die klassischen Jugend- und Gegenkulturen haben sich aber nur für eine ganz bestimmte, die afroamerikanische Diaspora interessiert. Das hatte neben der kulturindustriellen Power der USA noch einen anderen Grund: Die afroamerikanische Diaspora lebte in einem stabilen oder wenigstens bestimmten Distanzverhältnis zu Staat und Mehrheitsgesellschaft, dass sich politisch oder lebensstilistisch in bestimmte Formen übersetzen ließ. Das berühmte double consciousness, das der afroamerikanische Denker W. E. B. Du Bois schon zu Beginn der 20. Jahrhunderts in der afroamerikanischen Seele konstatierte, ließ sich durchaus auf etwas frivole Weise auf jugend- und gegenkulturelle Zustände beziehen.

Was genau meint das?

Du Bois redet nicht einfach von einer doppelten Identität, sondern schildert deren psychologische Folgen. Eine davon ist, immer gleichzeitig an zwei kulturelle Bezugsrahmen denken zu müssen, vor denen man zu bestehen hat und die sich oft auch feindlich gegenüberstehen. Man ist ja nicht nur Streuner, sondern hat auch irgendwie Familie.

Entsteht Dissidenz heute also nicht so sehr aus Abgrenzung, sondern mehr durch kulturelle Hybridität?

Ja einerseits, und deswegen ist Musik auch nicht mehr so gut als Vehikel geeignet, denn Popmusik tendiert doch zu emotionalen Holismus. Einerseits, weil Hybridität im Gegensatz zu allen immer noch lebendigen und immer wieder mobilisierten Homogenitätsvorstellungen des Westens steht. Andererseits nicht, wenn man Hybridität, wie so oft, praktisch in die Fähigkeit übersetzt, endlos kognitive Dissonanzen aushalten zu können. Wenn jemand aufgrund seiner hybriden inneren Verschiedenheit und Mehrteiligkeit besonders begabt für die allseits so beliebten Sekundärtugenden Flexibilität und Toleranz sein soll und daher bereit, sich mit jeder Zumutung abzufinden. So gesehen kann seine Hybridität zu leben auch heißen, widerstandsunfähig zu werden.

INTERVIEW: ISOLDE CHARIM

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