Widersprüche bei Pisa: Pisa hat einen kleinen, fröhlichen Bruder

Ratlosigkeit über die Leistungsstudie: Deutsche Schüler sind dramatisch besser geworden, sagt der deutsche Pisachef. Die 15-Jährigen stagnieren beim Lesen und in Mathe, sagen die OECD-Forscher.

In den Fächern Umweltwissen und Naturwissenschaften gehören die 15jährigen SchülerInnen aus Deutschland zu der Spitzengruppe. Bild: dpa

BERLIN taz Der Satz des Vormittags kam in Minute 53. Man hört ihn nicht oft in der Bundespressekonferenz, jenem Ort, an den Journalisten normal BundeskanzlerInnen einladen, um klare Auskunft zu verlangen. Die Journalistin fragte also: "Können Sie das wegerklären?" Und während im Plenum der Fragenden alle lächelten, saß die Reihe der Antwortenden ratlos da.

Die deutsche Erweiterung der Pisastudie (Pisa E) könnte ihres Namens verlustig gehen. "Wir müssen darauf achten, dass auch die nationalen Sonderberichte die gleichen sorgfältigen Standards verwenden", sagte Karin Zimmer, Leiterin der Arbeitsgruppe Pisa der OECD in Paris. Geschehe das nicht, dann können diese Studien nicht mehr unter dem Qualitätsnamen "Pisa" erscheinen. Das war der Höhepunkt der abweichenden Interpretation der Studie durch den deutschen Pisakoordinator, Manfred Prenzel. (Siehe oben.) Deutschland erweitert die Pisastudie stets durch Ziehung einer größeren Schülerstichprobe (57.000 statt 5.700) und eigene Schwerpunktsetzungen. Es bringt auch einen eigenen Pisabericht heraus. Das ist interessant und hilfreich, um das Schulsystem besser zu verstehen, sagte Zimmer der taz. Sie warnte allerdings davor, eigene Maßstäbe an gemeinsame Fragen anzulegen. "Wenn die deutschen Forscher die Fragebögen reskalieren, sprich anders bewerten, dann hat das mit der internationalen Pisastudie nicht mehr viel zu tun." Christian Füller

Kann man wegerklären, dass es eine Pisastudie gibt, aber das Lager der Interpreten inzwischen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommt?

Zum Beispiel beim Lesen. Lesen oder Reading Literacy war der Ausgangspunkt von Pisa. Es war bei Pisa 2000 Schwerpunkt, seitdem wird Lesen stets mitgetestet. Wie schneiden die rund 5.000 deutschen Schüler seitdem im Lesen ab? Die Schüler errangen bei Pisa 2000 magere 484 Punkte, bei Pisa 2003 ging es auf 491 Punkte hoch und jetzt auf 495. Elf Punkte mehr.

Erfreulich, sagt Heino Meyer, Leiter der Berliner OECD-Vertretung. "Allerdings ist die Verbesserung gegenüber Pisa 2000 statistisch nicht signifikant."

Manfred Prenzel hingegen, der deutsche Pisachef, sagt, beim Lesen steige Deutschland auf. "Schauen sie sich nur die Rangplätze an", führt der Leiter des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften an: "Im Jahr 2000 war es Platz 21, bei Pisa 2003 Platz 18 und bei Pisa 2006 ist es Platz 14."

Die wichtige Information für den Laien, dass der Zuwachs nicht gesichert ist, lässt Prenzel weg. Wenn man nicht alle 15-Jährigen testet, sondern nur eine Stichprobe, kann die Aussage stets mit einem Fehler behaftet sein. Einem Fehler, den man angeben muss. Das erfahren Studenten in jeder Statistikvorlesung - aber nicht die Bürger von Professor Prenzel.

Einigkeit zwischen den deutschen und den OECD-Forschern ist kaum mehr zu erzielen. Es geht so weit, dass die OECD den Deutschen rät, das Label Pisa nicht mehr zu verwenden (siehe Kasten).

Bei den Leistungen in den Naturwissenschaften geht es völlig durcheinander. OECD-Repräsentant Heino Meyer freut sich, dass die Deutschen erstmals "überdurchschnittlich gut abschneiden". Tatsächlich liegen sie mit 516 Punkten klar über dem Schnitt von 500 Punkten. Allerdings mahnt Meyer, daraus nicht gleich einen Trend zu machen. Pisaforscher Prenzel aber lässt sich gar nicht mehr bremsen. Erst fährt er die Moderatorin der Bundespressekonferenz an, "dass es hier immer noch nicht möglich ist, Grafiken zu zeigen. Mich erinnert das ein bisschen an den Zustand deutscher Schulen." Dann verkauft er dem Publikum die Story, dass deutsche Schüler von 487 Punkten im Jahr 2000 auf satte 516 Punkte hochgeschnellt sind. "Ein dramatischer Zuwachs." Neben Prenzel sitzt seine ehemalige Mitarbeiterin Karin Zimmer, die inzwischen bei der OECD ist. Sie verdreht die Augen. Als sie nach dem Zuwachs in Naturwissenschaften gefragt wird, verneint sie. Es gebe noch keinen Trend.

Spätestens jetzt wird klar: Pisa hat eine kleinen, stets fröhlichen Bruder bekommen. Und nun versteht man auch, warum dieser optimistische Strahlemann das Licht der Welt schon am Samstag in einer Vorabveröffentlichung erblicken musste. Denn die Kultusminister freuen sich über den Pisa-Wonneproppen von Professor Prenzel so sehr, dass sie seinen großen, bisweilen skeptischen Bruder von der OECD nicht mehr mögen.

"Das Pisa-Ergebnis ist Ansporn und Ermutigung", freut sich der Staatssekretär aus dem Bildungsministerium, Michael Thielen. "Wir sind auf dem richtigen Weg", sagt Hessens Kultusministerin Karin Wolff (CDU).

Aber drinnen in der Bundespressekonferenz geht es noch vergleichsweise zurückhaltend zu. Draußen herrscht Trubel - der interessierten Lobbyisten. "Was uns ganz besonders freut, ist die Tatsache, dass der in Deutschland dramatische Lehrermangel sich nicht negativ auf die Gesamtergebnisse ausgewirkt hat", sagte der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger.

Die neue Pisalinie heißt: jubeln. Wer wagt anzumerken, dass es das eine oder andere Problem gibt, der gilt als "Spaßbremse" (Der Spiegel). Selbst die seriöse Süddeutsche empfiehlt, das halb leere Glas doch mal als "halb voll" anzusehen.

In der Tat ist das Glas allenfalls halb voll, wenn man die Situation der Migranten betrachtet. Die Zuwandererkinder sind - erneut - die Verlierer. Satte 40 Prozent von ihnen erreichen noch nicht einmal die minimalsten Fähigkeiten in der Paradedisziplin Naturwissenschaften. Am aussagekräftigsten ist vielleicht diese Zahl: Je länger Zuwanderer im deutschen Schulsystem sind, desto schlechter werden sie. 93 Punkte sind die Migranten der zweiten Generation im Hintertreffen - der Abstand ist doppelt so groß wie im OECD-Durchschnitt.

Die Kultusminister bekümmert übrigens sehr, was mit den Zuwandererkindern geschieht. Immer wenn Frau Wolff nach Schulreform gefragt wurde, dann kamen in ihrer Antwort "Migranten" vor. Und zwar so oft, dass es als ein statistisch signifikanter Befund gewertet werden kann: Nicht das deutsche Schulsystem ist schuld an Pisa, es sind die Zuwanderer. Nicht die Schule muss sich ändern, sondern die Kinder.

Ach ja, was hat die Bevölkerung von Pisa verstanden? Viel. 81 Prozent der Befragten halten laut einer aktuellen Umfrage das Bildungssystem für grundlegend reformbedürftig.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.