Ärtze folgen dem Geld: Überweisung in den reichen Westen

Viele Ärzte verlassen die armen Bezirke und ziehen nach Charlottenburg, Steglitz und Wilmersdorf. Dort verdienen sie viel besser. Die Kollegen, die zurückbleiben, sind überfordert.

Pulsmessen lohnt fast nur noch nach einem Blick ins Portemonnaie des Patienten Bild: AP

Im März hat Bertram Steiner aufgegeben. Er hat für seine Zahnarztpraxis an der Sonnenallee in Neukölln einen Insolvenzantrag gestellt. Man merkt jetzt noch, wie viel Überwindung ihn dieser Schritt kostete. Wenn er darüber spricht, verzieht sich sein breites Gesicht. "Klar tut das weh, wenn man seine Bude nach 20 Jahren schließen muss." Steiner ist gebürtiger Neuköllner, er arbeitete gern in dem Bezirk. Aber die Vergütung sei im Laufe der Zeit immer schlechter geworden. "Irgendwann haben die Einnahmen die Kosten einfach nicht mehr gedeckt."

Armut macht krank, das ist wissenschaftlich belegt. Menschen, die sozial benachteiligt sind, sterben früher, sind häufiger Opfer von Unfällen und länger krank. Zum 13. Mal diskutieren Vertreter und Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft, Krankenkassen und Mediziner auf dem Kongress "Armut und Gesundheit" gemeinsam mit Betroffenen über Ansätze, die gesundheitliche Lage sozial Benachteiligter zu verbessern. Wie soll Teilhabe aussehen, wie kann sie verstärkt werden und wie können jene erreicht werden, die nicht von sich aus aktiv werden? Diese Fragen werden in zahlreichen Workshops erörtert, in denen es etwa um gesunde Stadtentwicklung geht, um die Schule als Lebenswelt, um Beschneidung und Sexualität sowie die psychologische Versorgung von MigrantInnen. Der Kongress findet heute und morgen im Rathaus Schöneberg statt und ist eine Gemeinschaftsaktion von Krankenkassen, dem Netzwerk Gesundheit Berlin, Kirchen sowie der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung. SchirmherrInnen sind Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (beide SPD).

In weißem Kittel sitzt der 55-Jährige in einer Praxis in Steglitz. Hier arbeitet der Zahnarzt heute als Angestellter. "Die Zähne sind überall die Gleichen", sagt er. Nicht aber die Bezahlung der Ärzte: In seiner eigenen Praxis behandelte Steiner viele Arbeitslose und Migranten, Neuköllner eben. Privatpatienten gab es so gut wie keine, sagt er. In Steglitz dagegen kommen Selbstständige, Angestellte und Beamte. 30 Prozent sind privat versichert. Die Praxis rechnet sich.

Wie Steiner ziehen viele Ärzte aus den armen Bezirken weg: 53 Mediziner hat Neukölln seit 2003 verloren, in Marzahn-Hellersdorf gibt es 28 Ärzte weniger, weiß die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV). Sie wechseln in wirtschaftsstarke Gebiete, weil sie dort besser verdienen: In Charlottenburg-Wilmersdorf arbeiten heute 85 Ärzte mehr als im Jahr 2003, Steglitz-Zehlendorf verzeichnet einen Zustrom von 39 Medizinern.

Darunter leiden die sozial schwachen Gebiete. "In einigen Kiezen ist die Entwicklung problematisch", räumt Annette Kurth, Sprecherin der KV, ein. Die Patienten seien eine wohnortnahe Versorgung gewohnt. Schaut man sich die Zahlen an, wird klar: Die ist in manchen Gegenden nicht mehr gegeben. Insgesamt sei die Zahl die Ärzte in Berlin aber sehr hoch, sagt Kurth.

Sicher, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man mit etwas Zeit und dem nötigen Kleingeld auch von Marzahn nach Charlottenburg. Aber gerade für Alte und Kranke ist die Fahrt eine große Belastung. "Ich kann meine Patienten nicht durch die halbe Stadt schicken", sagt Rainer Gebhardt. Er arbeitet als Lungenarzt in Neukölln. Seit Anfang des Jahres wieder zwei Kollegen den Bezirk verlassen haben, versorgen er und ein anderer Lungenarzt ganz Neukölln.

60 Stunden arbeitet Gebhardt pro Woche, um rund 2.000 Patienten kümmert er sich. Wer einen Termin will, bekommt den erst in zwei Monaten. "Es gibt in Neukölln im Moment eine echte Gefahr, an einer Lungenentzündung zu sterben", sagt Gebhardt. Er sei derzeit der einzige Arzt im Bezirk, der Lungen röntge - ohne die Bilder werde die Krankheit oft nicht erkannt.

Doch Röntgen lohne sich finanziell nicht. Das Gleiche gelte mittlerweile für einen Großteil seiner Arbeit. Schuld sei das begrenzte Budget, das Medizinern für die Behandlung von Kassenpatienten zur Verfügung stehe, sagt Gebhardt. Wer mehr macht, kriegt dafür kein Geld. "Ein Privatpatient bringt das Fünffache an Bezahlung", rechnet der Lungenarzt vor.

Nach der Wende gab es im Osten deutlich weniger Praxen als im Westen. Um das auszugleichen, plante man die Ärzteversorgung nach Bezirken. Seit vier Jahren gilt Berlin - wie andere Großstädte auch - als eine Planungseinheit. Das heißt, die Zahl der Ärzte wird zwar insgesamt festgelegt, die Mediziner können aber selbst entscheiden, wo sie sich niederlassen - und tun das natürlich dort, wo es für sie am wirtschaftlichsten ist.

Das geht zulasten der Armen: Während etwa in Charlottenburg-Wilmersdorf auf einen Psychotherapeuten knapp 970 Einwohner kommen, sind es in Marzahn-Hellersdorf 8.300 - mehr als achtmal so viele. "Ich erhalte jeden Tag Anrufe von Menschen, die einen Therapieplatz suchen", sagt Annemarie Jünemann, Psychotherapeutin in Marzahn. Sie könne aber erst wieder im Februar Patienten annehmen. "Das ist schlimm. Die Menschen stehen ja unter Druck, sie wollen schnell behandelt werden."

Jünemann verweist die Anrufer weiter. Doch auch das ist nicht so leicht: Viele Kollegen hätten den Bezirk verlassen, ohne dass neue nachkommen. Sie selbst könne sich als Therapeutin nur halten, weil sie Kosten spare: Sie behandelt im eigenen Haus, Mitarbeiter beschäftigt sie keine.

"Es wäre für die Planung besser, wenn es wieder nach Verwaltungsbezirken gehen würde", sagt Anne Angelika Springer, Psychotherapeutin und Mitglied im zuständigen Fachausschuss der KV. Die KV-Sprecherin Kurth verweist auf die im Jahr 2009 anstehende Honorarreform von Ärzten: Wenn die Vergütung insgesamt verbessert würde, könnten auch Leistungen in sozial schwachen Gebieten besser bezahlt werden.

Für den Zahnarzt Bertram Steiner aus Neukölln kommt das zu spät. "Ich wusste an den Monatsenden nicht mehr, wie ich meine Mitarbeiter und meine Miete zahlen sollte", erzählt er. Diese Verantwortung ist Steiner nun los. Er wirkt erleichtert. Und doch auch ein bisschen verloren in der neuen Praxis. Früher war er der Herr im Haus, heute steht sein Schreibtisch in einem Durchgangszimmer.

Im Frühjahr hat er seinen Patienten aus Neukölln einen Brief geschrieben. Dass er in Zukunft in Steglitz arbeiten werde. Manche fahren ihm seitdem hinterher. Im Wartezimmer sitzt ein Ehepaar aus Neukölln, Steiner begrüßt sie wie alte Bekannte. Man sieht, er freut sich, dass sie seinetwegen nach Steglitz kommen. "Beim Doktor wissen wir, woran wir sind", sagt der Mann, ein Brilli schimmert an seinem Ohr. Er macht es sich auf der dicken braunen Ledercouch bequem. Die Praxis in Neukölln sei auch schön gewesen. "Aber solche Sofas gab es da nicht."

Obwohl der Wechsel nach Steglitz für ihn ein Ausweg aus einer schwierigen Lage war - ganz loslassen kann Bertram Steiner noch nicht. Noch immer macht er sich Vorwürfe, dass er seine eigene Praxis nicht halten konnte. "Ich fühle mich schon als Versager", sagt er. Er grübelt viel, was falsch gelaufen ist, welche "Stellschraube" er übersehen hat, wie er es nennt. Und kommt zu dem Schluss: "Ich hätte Neukölln viel früher verlassen müssen."

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