Staatliche Überwachung: "Man passt sich an und merkt es nicht"

Überwachung wirkt subtil. Sie fördert die innere Zensur und unterdrückt den Widerspruchsgeist der Bürger. Das ist im allgemeinen Bewusstsein noch längst nicht angekommen, so Technikforscher Sandro Gaycken.

Auf den Screens: Niemand der aus dem Rahmen fällt Bild: dpa

taz: Herr Gaycken, derzeit wird in Deutschland über verschärfte Sicherheitsgesetze diskutiert. Welche psychologischen Folgen könnten diese haben?

Sandro L. S. Gaycken: Alles, was derzeit in Richtung stärkere staatliche Überwachung passiert, wird das künftige Verhalten von Menschen stark verändern. Verantwortlich dafür ist der so genannte Beobachter-Effekt. Darunter versteht man eigentlich ein altes wissenschaftliches Problem: Ein Mensch, der bei einem Experiment weiß, dass er beobachtet wird, verhält sich automatisch nicht natürlich und verfälscht somit die Ergebnisse des Versuchs.

Was ist dagegen einzuwenden, dass Leute ihren Müll nicht mehr auf die Straße schmeißen, weil sie wissen, dass sie von einer Kamera beobachtet werden?

Die Veränderungen werden sehr viel tiefgreifender sein. Es gibt einen Versuch, bei dem in einem Raum ein Foto aufgehängt wurde. Die Person darauf wurde den Versuchsteilnehmern als Beobachter vorgestellt. Während des Experiments war im Verhalten der Teilnehmer etwas Interessantes zu beobachten: Sie versuchten so zu handeln, wie sie glaubten, dass es der Beobachter für richtig hielt. Wenn Menschen überwacht werden, wollen sie konform mit den Werten der überwachenden Autorität agieren. Überwachung fördert die innere Zensur. Sie unterdrückt Widerspruchsgeist. Die große Gefahr ist, dass dies unterbewusst geschieht. Man passt sich an und merkt es gar nicht.

Ihre These ist nur dann richtig, wenn Menschen wissen, dass sie überwacht werden. Derzeit weiß die breite Öffentlichkeit aber weder viel über Online-Durchsuchungen noch interessiert sich die Masse der Leute für die geplante Speicherung von Verbindungsdaten.

Heute mag dieser Einwand noch berechtigt sein. Das liegt aber am so genannten "cultural lag", der kulturellen Verzögerung. Das heißt, dass Menschen erst lange nach der Einführung einer neuen Technik deren negative Auswirkungen bemerken. Dieses Phänomen tritt bei der Einführung einer jeden Technologie auf, bei der Atomtechnik war es zum Beispiel auch so. Breite Unterstützung fand der Widerstand gegen die Atomkraftwerke erst Jahre nach der Erfindung der Technologie.

Wann wird das bei der Überwachung so sein?

Genau lässt sich das zeitlich nicht festmachen. Klar ist aber: In zehn oder fünfzehn Jahren wird es sehr schwer sein, das, was heute an Überwachungstechnik eingeführt wird, wieder zurückzunehmen. Es besteht wie bei der Atomtechnik durchaus die Gefahr eines GAUs. Eine Idee für einen Überwachungsausstieg existiert dagegen nicht einmal im Ansatz.

Wie würde der Überwachungs-GAU aussehen?

Der Sicherheitstechnik von heute ist es egal, wer sie morgen benutzt. Niemand kann garantieren, dass sie nicht von einem diktatorischen System missbraucht wird. Demokratien sind nicht immun gegenüber autoritären Tendenzen.

Sie haben selbst den Atom-Vergleich bemüht. Heißt das nicht, dass es irgendwann heftigen Widerstand gegen zu viel Überwachung geben wird?

Das mag jetzt sehr pessimistisch klingen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Kaum eine Technik schafft so eine enge Beziehung zwischen ihrem Beherrscher und denen, die ihr ausgesetzt sind, wie es die Überwachungstechnologie tut. Der Überwachte versucht nach bisherigen Erkenntnissen, sein Handeln dem Wertesystem des Überwachers anzupassen. Vielleicht werden die Menschen gar nicht mehr den Wunsch verspüren, sich gegen Überwachung zu wehren.

Das klingt ein wenig alarmistisch. Gibt es denn Studien, die Ihre Einschätzungen stützen?

Zum Beobachtereffekt gibt es jede Menge Untersuchungen, die das belegen. Eine interessante Studie gibt es außerdem aus Kanada, die hat sich mit so genannten "überbeschützenden Müttern" beschäftigt, deren Kinder sich bei ihnen dauernd beobachtet fühlen. Das Ergebnis dieser Untersuchung war, dass solche Kinder nur sehr schwer in der Lage sind, ethische Entscheidungen zu treffen und einen eigenen Standpunkt in moralischen Fragen einzunehmen.

Die meisten Überwachten sind keine Kinder.

Das ist richtig. Aber das autoritäre Verhältnis solcher Mütter zu ihren Kindern lässt durchaus Vergleiche mit dem Wechselspiel zwischen einem starken Sicherheitsstaat und denen, die in ihm leben, zu. Der Einwand ist aber insofern berechtigt, als es viel zu wenige Studien über die Wirkung von Überwachungstechnologien gibt. Die einzige Studie, mit der zum Beispiel der Sinn der Vorratsdatenspeicherung belegt wird, führt 65 Fälle aus den Niederlanden auf. Die sind so ausgesucht, dass sie die Nützlichkeit dieser Maßnahme beweisen. Das ist nicht repräsentativ und wissenschaftlich zweifelhaft.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ

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