Wladimir Kaminer über seinen "Entdecker": Sammler, Raucher, Schreiber

Zum 60. Geburtstag meines guten Freundes, des tazlers Helmut Höge - Experte für Wölfe, Glühbirnen und Bakterien und formidabler Bordell-Rechercheur.

Unter Wölfen: "Er las, schrieb, trank, rauchte, ich tat es auch, unsere Interessen lagen also nicht weit auseinander." Bild: dpa

Was haben Glühbirnen, Bakterien, Wölfe und Partisanen gemeinsam? Die Antwort auf diese Frage kann nur eine Person auf der ganzen Welt geben, mein Freund Helmut Höge.

Wir haben uns vor zehn Jahren in einer Kneipe in Prenzlauer Berg kennen gelernt. Im Rahmen einer Tagung "Osteuropa im Wandel zwischen Revolution und Konterrevolution" musste ich einen Vortrag halten.

Ein großer Kerl kam in der Pause zur Bühne und stellte sich als der taz-Redakteur Helmut Höge vor. Er trug als Einziger in der Runde einen Anzug. Alle anderen in dieser Kneipe hatten Lederjacken an, manche trugen gestreifte Seemannshemden darunter, die Frauen trugen streng feministisch Männerklamotten. Der Mann im Anzug bat mich, für seine Zeitung zu schreiben.

"Das Thema ist unwichtig, das Thema ergibt sich von allein", behauptete er. Wir verdrückten uns in eine Ecke, um die Einzelheiten der zukünftigen Zusammenarbeit zu besprechen. Ich hatte keine Ahnung wie man für die Zeitung schreibt.

Die Veranstaltung ging währenddessen weiter. Nach mir las ein ungarischer Kollege seine Gedichte vom Zettel ab, er las auf Ungarisch und blieb vom überwiegend deutschen Publikum unverstanden. Vor ihm auf dem Tisch brannte eine Kerze, die den Vortragenden die Leselampe ersetzte. Der Dichter stand mehrmals kurz davor, mit seinem Zettel Feuer zu fangen. "Gute Gedichte brennen nicht", sagte Helmut. Kaum sprach er den Satz zu Ende, fingen die ungarischen Gedichte Feuer. Der Autor löschte den kleinen Brand auf dem Tisch mit bloßen Händen. Wir gingen an die frische Luft.

Zu Hause setzte ich mich in der Küche, kreierte schnell meine erste, zweite und dritte Zeitungskolumne und schickte sie an Helmut. Die Kolumnen erschienen in loser Folge in der taz neben seinen eigenen Kolumnen über Berliner Ökonomie.

Ab da trafen wir uns unregelmäßig und tauschten uns über das bereits Gelesene und Geschriebene aus. Immer hatte Helmut eine Tasche dabei, die voll mit Büchern beladen war, eine Lebensration an Literatur. Er las, schrieb, trank, rauchte, ich tat es auch, unsere Interessen lagen also nicht weit auseinander.

Ende der 90er-Jahre interessierte sich Helmut stark für Sibirien, für Wölfe und für Prostituierte. Die Partisanen kamen etwas später dazu. Als meine Frau für eine Woche nach St. Petersburg verreiste, startete ich mit Helmut eine Recherche in Berliner Bordellen, die ich nach drei Tagen abrechen musste, weil meine Frau früher als erwartet zurückkam. Helmut recherchierte allein weiter.

Ich interessierte mich damals sehr für China und für die westeuropäische Nachkriegsgeschichte, ich kannte mich mit diesen Themen überhaupt nicht aus - eine von vielen Wissenslücken, die durch meine Sozialisierung in der Sowjetunion entstanden sind. Helmut und ich, wir hatten einander viel zu erzählen.

Ich erzählte zum Beispiel über meinen Dienst in der sowjetischen Armee und wie ich einmal mit einem Güterzug die Kühe von Lettland nach Mittelasien transportierte. Er erzählte über seine Arbeit in der amerikanischen Armee und wie er die indischen Elefanten von Hamburg nach Ostberlin ebenfalls in einem Güterzug begleitete. Man hatte die Essensrationen der Elefanten falsch berechnet und Helmut musste sie mit Snickers und Studentenfutter füttern, hat er jedenfalls erzählt.

Später gingen wir mit Helmut zusammen auf Reisen, wir flogen nach Estland auf Einladung des Goethe-Instituts. Helmut kaufte sich dort einen estnischen Anzug und recherchierte über estnische Wölfe, wobei ihn zu diesem Zeitpunkt die Glühbirnen mehr als Wölfe interessierten. Er hatte bei einem Ausverkauf in einem Berliner Antiquariat 35 Kilo sowjetischer Industrialisierungsromane ergattert, ich musste dazu referieren.

In seiner Kreuzberger Wohnung hatte Helmut tausende von Dias gesammelt und nach Themen sortiert: "Menschen, die essen", "Menschen, die anderen Menschen den Weg zeigen", "Menschen und ihre Schrankwände" und so weiter. Ich schrieb die Geschichten dazu.

Die Ergebnisse dieser Arbeit haben wir zuerst als eine Zeitungsserie, dann als Diavortrag zum Thema "Menschheit" vermarktet, später als Bilderband "Helden des Alltags" bei einem großen Münchener Verlag herausgegeben. Abschließend schrieb Helmut noch eine "Berliner Ökonomie" darüber.

Mit dem Vortrag zum Thema "Menschheit" sind wir immer weiter bis nach Island gefahren, es war ein großer Erfolg, obwohl die Insel nicht sehr schön ist. Die Isländer fanden uns prima, haben aber nach dem Vortrag keine einzige Frage gestellt. Daraufhin betrachteten wir das Thema "Menschheit" als erledigt und widmeten uns anderen Themen.

Vorher badeten wir in der berühmten "Blue Lagune", das Wasser war weiß und heiß, fast kochend, draußen herrschten winterliche Temperaturen von minus 20 Grad. Trotz dieses Spaßes machte Island Helmut traurig, ihm fehlten die Bäume, die Vegetation. Das hielt ihn trotzdem nicht davon ab, drei Jahre später noch einmal mit mir nach Island zu fliegen, nachdem wir Ungarn (Glühbirnen), Tschechien (Wölfe) und Norwegen (Partisanenmuseum) besucht hatten.

Ein bisschen schwierig wurde es, als Helmut anfing, sich für Bakterien zu interessieren. Sein Glühbirnenbuch war bereits erschienen, die Bakterien kamen wie von allein. Ein Jahr lang las er nur über Bakterien, er schrieb über Bakterien und er redete nur über die verfluchten Bakterien. Zu jedem Thema - ob Liebe oder Weltordnung - hatte Helmut ein Beispiel aus der Bakterienwelt parat. Meine Frau, die Bakterien nicht mag, regte sich auf. "Hören Sie auf mit Ihren Bakterien, Helmut, mir wird gleich schlecht", rief sie. "Aber Bakterien sind die Quelle des Lebens, meine Liebe!", ließ Helmut nicht locker.

Zum Glück bleibt das Leben nicht stehen, auch die Bakterien sind inzwischen abgearbeitet (Yes!), im Grunde geht es bei jeder Forschung um dasselbe, um die Endlosigkeit der Erkenntnisse, um das Antasten der Ewigkeit, um die Wonne des Scheiterns, um Wölfe, um Glühbirnen, um die Bakterien und die Elefanten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.