Das Schlagloch: Die gute Botschaft

Ist der Islam patriarchaler als, sagen wir, der deutsche Universitätsbetrieb? Wohl kaum.

Oft werde ich gefragt, ob der Islam eine patriarchale Religion sei und ob es stimme, dass in den deutschen Moscheen die Männer das Sagen hätten. Die zweite Hälfte der Frage ist ja noch leicht zu beantworten. Jedenfalls nehme ich mal an, dass die meisten Moscheen mehrheitlich in Männerhand sind, so wie auch an der Spitze unserer Universitäten fast ausnahmslos Männern präsidieren und die meisten Abteilungen unserer Kliniken von männlichen Chefärzten geleitet werden. - Mit "unsere" meine ich natürlich die deutschen Einrichtungen.

Es gibt dann immer den ein oder anderen Kirchenkritiker, der einem unterstützend zur Seite springt und ergänzt, dass es in den christlichen Kirchen ja auch so ist. Zwar richtig, aber aus muslimischem Mund kein so glückliches Argument. Sinn der Übung ist ja nicht, zu sagen: Unsere Religion mag schlimm sein, aber eure ist es auch. Gemeint ist eher: Ja, das mit den tonangebenden Männern ist tatsächlich ein weit verbreitetes Problem; allerdings sehe ich nicht, wie ein Fokussieren auf etwas vermeintlich spezifisch Islamisches uns hier weiterbringen könnte. Derart von allgemeinen patriarchalen Strukturen zu sprechen, scheint aber vielen "Islamkritikern" so schwer verständlich, dass man fast geneigt ist, hier eine Art neumodisches Tabu zu sehen. "Sie sind ja frivol!", kreischte mich einmal ein Mitdiskutant einer Talkshow an und wiederholte, das Argument mit den Unipräsidenten etc. sei "eine der frivolsten Äußerungen", die er je gehört habe. Ich war so verdattert von diesem unüblichen Gebrauch des Wortes frivol, dass ich gar nichts zu erwidern wusste.

Inzwischen habe ich mir überlegt, dass die Überreaktion jenes Herren vielleicht daher rührte, dass man es sich im deutschen öffentlichen Diskurs angewöhnt hat, säuberlich zu trennen zwischen der "deutschen" Problematik (= zu wenig Geburten und Kindertagesstätten) und der "orientalischen" (= Gewalt gegen Frauen und generell männliche Dominanz). Wird an dieses Muster gerührt, werden schlimme Ängste wachgerufen, die grundsätzliche Feminismus-Debatte sei noch nicht vorbei, es fange alles wieder von vorne an und der gemeine Mann auf der Straße oder in der Vorstandsetage könne sich wieder Vorwürfen ausgesetzt sehen, er sei ein potenzieller Vergewaltiger, ein Macho oder er tue nicht genug im Haushalt.

Nun, meinetwegen kann man solche Fragen ja gar nicht grundsätzlich genug aufrollen. Aber hier soll es jetzt um die Frauen und den Islam gehen. Auf die Frage, ob der Islam selbst patriarchal ist, gibt es meiner Meinung nach zwei Antworten: Als Religion ist er es in dem Sinne, als es in den 14 Jahrhunderten seines Bestehens und seiner Entwicklung in überwiegender Mehrzahl Männer waren, die ihn interpretiert und praktische Fragen entsprechend der bestehenden Geschlechterhierarchie ausgelegt haben.

In jeder patriarchalen Gesellschaft tragen die Frauen diese Hierarchie mit: Sie gehorchen, wo sie widersprechen könnten, und geben Minderwertigkeits- oder Superioritätsgefühle an ihre Kinder weiter. Auch das ist im Islam nicht anders als in anderen geistigen, übrigens auch säkularen Traditionen. Kant und Rousseau haben ein verheerend unfeministisches Rollenverständnis gehabt. Frauen von damals bis heute haben ihr Söhne zu mehr Wildheit angespornt und ihre Töchter gelobt, wenn sie gute Puppenmuttis waren.

Das ist also die eine Antwort auf die Frage nach dem patriarchalen Islam; in einer zweiten Hinsicht allerdings zielt die Frage nicht auf das historische und soziale Phänomen, sondern sozusagen aufs "Herz" des Islam, auf seinen normativen Kern, auf seine "Urform" - falls wir Heutigen sie denn rekonstruieren können. Diese Vorstellung eines "Islam an sich" ist problematisch; der Theologe Nasr Abu Zaid zum Beispiel argumentiert überzeugend, dass auch der Koran selbst ein historischer Text ist in dem Sinne, dass er den Dialog Gottes mit Mohammed dokumentiert, konkrete Fragen jener Zeit aufgreift und Anweisungen für ganz bestimmte Lebenssituationen der frühen muslimischen Gemeinde enthält. Dennoch, meint Abu Zaid ebenso wie alle mir bekannten Muslime, die den Koran in historisch informiertem Licht lesen, lassen sich den Suren überhistorische theologische und ethische Impulse entnehmen, gerade wenn man die koranischen Direktiven mit den damals verbreiteten Praktiken vergleicht.

Ein berühmtes Beispiel ist das Erbrecht: In vorislamischer Zeit haben Frauen nichts geerbt; der Koran sichert ihnen aber den halben Erbteil eines Mannes (der sie zudem materiell versorgen musste) zu. Dermaßen mit Argumenten gewappnet, traut man sich, auch die als "problematisch" bekannten Suren des Korans wieder zu lesen. Deren Existenz soll gar nicht geleugnet werden. Was mich aber bei jeder erneuten Koranlektüre so verblüfft, sind die vielen Stellen des Korans, die die Rechte der Frauen ganz klar gegen die Willkür der Männer verteidigen. Der Koran - und aus ihm, nach muslimischem Verständnis, also Gott - kritisiert viele Praktiken, die auf Kosten von Frauen gehen, gerade, was ihr (sexuelles) Selbstbestimmungsrecht angeht.

Gegen die damalige Tradition verbot der Koran, Frauen einfach an andere Männer weiterzuvererben, wenn sie dies nicht selbst wollen (4:19). Es ist einem Mann nicht erlaubt, dreimal hintereinander eine Scheidung auszusprechen und dann wieder zurückzunehmen; ein dreimal geschiedenes Paar darf erst wieder heiraten, wenn die Frau zwischendurch mit einem anderen verheiratet war (Sure 2:230). Diese Regel schützt die Frauen vor dem tyrannischen Mann, der sie mit der Androhung der Scheidung einschüchtern will. Ein Mann darf seine Ex-Frau nicht daran hindern, einen anderen zu heiraten (2:232), muss sie / in Frieden / ziehen lassen (2:231) und ist verpflichtet, für ihren Unterhalt aufzukommen, während sie für das gemeinsame Kind sorgt (2:322). Immer wieder heißt, es, "wenn sie (die Frauen) es (nicht) wünschen".

Aus diesen Versen spricht eine große Aufmerksamkeit für die alltäglichen sexistischen Praktiken des Drohens, Erpressens und Bedrängens, deren Grenze zur familiären und sexuellen Gewalt bis heute fließend ist. Noch rätselhafter als die obige Verwendung des Wortes "frivol" ist mir, wie all diese Verse und ihre eindeutige Botschaft in Vergessenheit geraten konnten. Man muss den Koran nicht "gegen den Strich bürsten", um sie zu finden; es steht alles exakt so drin. Unzählige Male werden Männer /und / Frauen direkt adressiert: Die göttliche Botschaft richtet sich an alle Gläubigen, "ob Männer oder Frauen", heißt es wörtlich.

Wer also hindert uns daran, diese Verse zu lesen? Dieselben sonderbaren, immer nur dem Bestehenden zuarbeitenden Kräfte, die uns vorgaukeln, Feminismus habe etwas Peinliches, Überholtes an sich, dieselbe innere Stimme, die auch einer modernen Mutter einflüstert, ein Junge sei zu schelten, wenn er mit Barbies spielt, oder ein Mädchen sei dafür zu loben, dass es die Beine stets sittsam übereinanderschlägt.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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