Kommentar: An der Schwelle zum Pogrom

Die Besorgnis über den Standort Sachsen verstellt den Blick darauf, dass die Hetzjagd von Mügeln keine normale alkoholisierte Massenschlägerei unter Saufkumpanen war.

Alles ist wie immer. Wie im Falle des Überfalls auf Schauspieler in Halberstadt äußern jetzt Politiker Betroffenheit, Bestürzung und Ratlosigkeit über die Vorgänge in Mügeln. Für vielleicht zwei Tage steigt das Thema rechtsextreme Gewalt zur Schlagzeile überregionaler Medien auf. Nicht, dass es dort etwa gut aufgehoben wäre. Denn die Reflexe der Medien und die Rituale der Politiker verstellen den Blick darauf, dass Mügeln und Halberstadt, Pömmelte und Pretzien keine zufällige Abfolge von bedauernswerten Ereignissen sind, sondern ihre Ursachen in der Normalisierung rechtsextremer Lebenswelten und Ressentiments in der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft haben.

David Begrich ist Referent der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg.

Die besorgten Fragen nach dem Ruf des Standorts Sachsen verstellen den Blick auf lokale Eliten und Polizeibehörden, denen offenbar keine rhetorische Verrenkung zu peinlich ist, um das Kind nicht beim Namen nennen zu müssen; dass nämlich die Hetzjagd von Mügeln keine normale alkoholisierte Massenschlägerei unter Saufkumpanen war, sondern eine fremdenfeindlich motivierte Tat, an der Schwelle zum Pogrom.

Dass Neonazis in der Mitte der Gesellschaft auf Resonanz stoßen, geht heute fast jedem Politiker flott von den Lippen. Was dies für Opfer rechter Gewalt bedeutet, kann jedoch nur ermessen, wer sich deren Perspektive zu eigen macht. Dann stellen sich alltägliche Diskriminierung, Übergriffe und eine Hetzjagd, wie jene in Mügeln, nicht als mediale Ereignislage dar, sondern als existentielle Bedrohung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrheit.

Die Debatte um Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland ist allerseits in Klischees erstarrt. Die griffbereiten Textbausteine Plattenbauten und Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Jungmännerüberschuss, erklären rechtfertigend, was nicht zu rechtfertigen ist: der Verlust an moralischem und zivilisatorischem Anstand gegenüber Migranten, nicht-rechten Jugendlichen und anderen potenziellen Opfern rechter Gewalt. Wer dies nicht offensiv benennt, verharmlost die gesellschaftliche Tragweite rechtsextremer und fremdenfeindlicher Gewalttaten.

Im Interesse der Opfer braucht es eine Kehrtwende in den Reaktionsritualen von Politik und Medien. Erstere müssen nicht nur Abscheu bekunden, sondern Rückhalt für die Opfer signalisieren und sich konkret für sie einsetzen. Die Medien müssen davon ablassen, immerfort Experten jeder Colour zu befragen, und den Opfern eine Stimme, ein Gesicht, kurz: ihre Würde zurückgeben.

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