Freie Schulen: "Wir motivieren die Schüler nicht"

Mit dem Ferienschluss geht Deutschlands erste demokratische Schule an den Start: Nenas "Neue Schule Hamburg". Ein Gespräch mit den Leitern britischer freier Schulen über selbstbestimmtes Lernen.

In demokratischen Schulen lernen die Schüler selbstständig. Bild: ap

taz: Zoe Readhead, David Gribble, in Kürze: Was unterscheidet die Lehrer an Ihren selbst ernannten "demokratischen Schulen" von anderen?

David Gribble: Die Antwort ist ganz kurz: In einer demokratischen Schule sind die Lehrer nicht die Vorgesetzten der Schüler. Sie üben keine Macht aus...

...und wenn Sie das tun, wie an 99 Prozent der Schulen weltweit, sind sie undemokratisch?

Gribble: Natürlich ist es undemokratisch, Macht auszuüben. Aber nicht nur das: Die Macht, die Lehrer über ihre Schüler ausüben, ist tödlich für das Lernen. Ich habe nach meiner Lehrerausbildung zunächst an einer konventionellen Schule gearbeitet. Als ich mit 24 Jahren Lehrer wurde, glaubte ich, dass Schüler und Lehrer Partner sein könnten. Es geht nicht. Nicht einmal eine Gruppe, mit der ich über Monate sechs Stunden in der Woche Jazz gespielt habe, konnte mich als Freund sehen - und ich sie auch nicht. Einfach, weil ich in der überlegenen Position war.

Zoe Readhead: Ich stimme voll zu! Es mag an staatlichen Schulen Lehrer geben, die empathisch, kompetent oder einfach nur nett sind. Aber es gibt keine Gleichheit. Und ohne Gleichheit keine Freundschaft.

Ist Freundschaft ein bestimmender Faktor für Bildung?

Readhead: Unbedingt! Wenn man von jemandem lernen will, braucht man eine Beziehung, in der man sich wohl fühlt und frei ist, zu sagen was man denkt. Mit "Freundschaft" meine ich nicht "Buddies". Sondern dass Lehrer und Schüler gleich viel Wert sind und sich ernstgenommen fühlen. Auch bei uns müssen Schüler und Lehrer sich nicht mögen - aber sie müssen das Gefühl haben, dass sie gleichberechtigt sind und dass sie jedes auftauchende Problem gleichberechtigt besprechen und versuchen eine Lösung zu finden.

In Deutschland wird seit der Pisa-Studie viel diskutiert, wie Lehrer besser auf ihre Arbeit vorbereitet werden können. Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage nach pädagogischen Kompetenzen, die jedem Schüler gerecht werden: Wer lernt wie am besten, wen kann ich wie motivieren?

Readhead: Sehen Sie, das ist vielleicht der größte Unterschied: Wir motivieren unsere Schüler nicht. Sie finden selbst heraus, wo ihre Interessen liegen. Summerhill wurde aus der Idee geboren, dass Motivation intrinsisch, also in jedem Schüler vorhanden ist. Man muss ihm Raum geben, daraus etwas zu machen. Der Lehrer ist dazu da, Schüler mit Wissen auszustatten, das diese haben möchten.

Braucht der Lehrer, den Sie gerne wollen, dafür überhaupt eine Lehrerausbildung?

Readhead: In Summerhill haben alle Lehrer eine klassische Lehrerausbildung absolviert, auch wenn viele nie an herkömmlichen Schulen unterrichtet haben. Der Lehrerberuf stellt heute so komplexe Anforderungen, dass es unserer Ansicht nach ohne eine universitäre Ausbildung nicht geht. Verpflichtend ist das aber nicht.

Wie kommen die Lehrer - vor allem jene, die auch schon an anderen Schulen waren - damit zurecht, wenn Schüler tun, wozu sie Lust haben?

Readhead: Sie finden es toll!

...von Anfang an?

Readhead: Na ja, ich will nicht verschweigen, dass es für einige anfangs schwierig ist. Bei uns erlebt jeder Lehrer einmal oder regelmäßig, dass er Unterricht anbietet - und kein Mensch kommt. Dann nicht zu denken: "Oh Gott, was habe ich falsch gemacht? Sie hassen mich!" ist ein Lernprozess, den jeder durchmachen muss. Am Ende muss man akzeptieren, dass Schüler manchmal vielleicht lieber Fahrradfahren als im Klassenzimmer zu sitzen - oder auch, dass der Unterricht den man anbietet, wirklich nicht so toll ist. Ich glaube aber, dass diese Erfahrung für alle Lehrer ganz wichtig ist. Mit der Zeit genießen sie es, mit selbstbewussten und eigenständigen Menschen zu tun zu haben.

Gribble: Manche lernen es leider aber nicht so schnell, die Freiheit der Schüler zu akzeptieren - schlimmstenfalls lernen sie es nie. Wir haben immer wieder Lehrer erlebt, die durch die Sands School liefen und den Schülern vorschreiben wollten, was sie zu tun hatten. Erst vor ein paar Jahren hatten wir eine Lehrerin, die es überhaupt nicht lassen konnte, ihre Schüler als ihre Untergebenen zu behandeln und ihnen detaillierte Lernvorschriften zu machen. Ein völlig lächerlicher Versuch! - Und natürlich hörte niemand ihr zu. Als wir sie dann von Seiten der Erwachsenen darauf ansprachen, dass sie die Kinder nicht so behandeln kann und es vor allem zu nichts führen wird, rastete sie völlig aus. Am Ende musste sie die Schule verlassen.

Warum sollen Lehrer, die zu ihnen kommen, eigentlich der Überzeugung sein, die Motivation komme schon von selbst? Wissen Sie was? Ich sehe mich auch überhaupt nicht als 10-Jährige zuhause sitzen und freiwillig lernen!

Readhead: Weil Sie nicht an einer demokratischen Schule waren! Dort hätten sie gelernt, analog zu Ihren Interessen und Neigungen zu lernen.

Lesen, Schreiben, Rechnen, Geographie, Mathe und Physik?

Readhead: Nicht systematisch und vielleicht auch nicht alle Fächer. Aber muss man das? Entscheidend ist, dass alle unsere Schüler wissen, dass es eine Welt da draußen gibt, in der sie überleben müssen. Dieses Wissen ist übrigens ein zentraler Bestandteil der Motivation.

Gribble: Ich würde noch weiter gehen: Der Besuch einer staatlichen Schule mit ihrem fixen Curriculum hat meine Motivation nicht nur nicht gefördert, sondern geradezu zerstört. Als ich acht war, haben mich Geschichte und Naturwissenschaften fasziniert; mit 18 habe ich sie gehasst. Auch ist im Laufe meines über 70-jährigen Lebens ein ganz guter Jazz-Musiker aus mir geworden - in der Schule wurde mir aber ununterbrochen eingeredet, ich sei unmusikalisch.

Nun hat sich der Unterrichtsstil seit den 50er-Jahren geändert...

Readhead: Das Entscheidende ist geblieben: Kinder müssen lernen, was ihnen gesagt wird.

Kommt die Motivation auch bei Kindern von innen, die nicht aus der bildungsbewussten Mittelschicht kommen? Die durchschnittlichen Eltern in einer Stadt wie Berlin oder London sind von dem Typus, der seine Kinder nach Summerhill schickt, meilenweit entfernt.

Readhead: Die Kinder, von denen Sie sprechen, sind doch genau die, die in konventionellen Schulen nicht motiviert werden! Ich bleibe dabei: Jedes Kind interessiert sich für etwas, unabhängig von seiner Herkunft. Auch wir haben nicht nur bildungsbeflissene Schüler. Viele kommen mit großen Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Nicht, weil die Eltern Summerhill toll finden, sondern weil sie keinen Ausweg sehen. Und es funktioniert. Kürzlich zum Beispiel kam ein 13-jähriger, der, wie es so schön heißt, funktionaler Analphabet war. Über Monate interessierte er sich für gar nichts. Wir dachten: Oh, Gott! Dann entdeckte er die Holzwerkstatt für sich - und ist dabei, ein Kunsthandwerker zu werden. Der Trick ist: Wir geben Kindern Zeit herauszufinden, was sie wollen.

INTERVIEW: JEANNETTE GODDAR

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