Auf DVD "Keane": Der Alltag im Absturz

Lodge Kerrigan beeindruckt mit "Keane" (USA 2004), weil er das Durchdrehen seines Helden nicht pathologisiert

Ein Mann, gehetzt, auf den Fluren des New Yorker "Port Authority"-Busbahnhofs. Er hat einen Zeitungsausschnitt in der Hand, man erkennt vage den Kopf eines Mädchens. Der Mann, William Keane (Damian Lewis), erzählt den vorübereilenden Passanten, sie sei seine Tochter, er habe sie verloren, sie sei entführt worden, er müsse sie wiederfinden. Vom ersten Moment an hat man den Eindruck: Etwas stimmt nicht mit Keane, er ist neben der Spur, er redet vor sich hin, er ist ein Getriebener. Mehr noch: Je länger er durch die Gänge des Busbahnhofs irrt, je verwirrter er vor sich hin spricht, je heftiger er gestikuliert, desto weniger darf man sicher sein, dass er weiß, was er da redet, ja, irgendwann fragt man sich, ob es diese Tochter, die er sucht, wirklich gibt.

Der Film stellt in dieser Frage keine Eindeutigkeit her. Dafür ist er - wie schon der Titel verspricht - zu nahe dran an Keane, lässt sich und dem Betrachter kein Spiel, in dem sich Distanz herstellen ließe zur Figur. Keanes Verhalten wäre gewiss als Krankheitsbild, als Schizophrenie, beschreibbar, aber darauf legt es Regisseur und Drehbuchautor Lodge Kerrigan gerade nicht an. Er will nur, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Insistenz, einen Mann zeigen, der sich auf einem schmalen Grat bewegt zwischen Durchkommen und Durchdrehen, zwischen Alltag und Absturz.

Kerrigan findet als genuin filmisches Mittel des Umgangs mit seiner Figur das entschlossene Dranbleiben. Fast in jeder Einstellung ist Keane in Nahaufnahmen im Bild, die Kamera hetzt ihm hinterher, wagt nur gelegentlich einen Blick zur Seite, auf die Gassen und Straßen New Yorks, auf andere Figuren - und schwenkt dann wieder, wie angesteckt durch Keanes Zwangsverhalten, zurück auf ihn. Durchaus stilverwandt ist "Keane" dem auf eine junge Frau konzentrierten "Rosetta" (1999) der belgischen Regie-Brüder Dardenne. Hier wie da bleibt der Kamera nichts, als der Hauptfigur zu folgen und immer weiter zu folgen, sich den mitunter schwer erträglichen Dingen auszusetzen, die sie tut.

Es geht dabei keineswegs - à la Dogma - um die künstliche Illusion eines Dokumentarismus, sondern um den so absichts- wie kunstvoll restringierten Code einer Filmsprache, die Aussagesatz an Aussagesatz reiht und sich einem auf Fragen, Erklärungen und komplizierte Wendungen der Geschichte verzichtenden Beobachtungs- und Bewegungsgesetz unterstellt. Alle Szenen, alle Bewegungen sind dabei genauestens geprobt, aufs Detail berechnet - der Schein des Spontanen und Improvisierten stellt sich nur auf dem Umweg über penible Vorbereitung ein. Regisseur Lodge Kerrigan sucht nicht die geschlossene Form, aber die Offenheit, die er gewinnt, ist Ergebnis von harter Arbeit: am Buch und vor allem mit dem grandiosen Hauptdarsteller Damian Lewis, der seine Performance nie in die übliche Geisteskrankheitsakrobatik überzieht.

Keane ist ständig unterwegs. Die Kamera, wir, der Film folgen ihm durch die Straßen New Yorks, über den Hudson River nach New Jersey und wieder zurück, in das Hotel, in dem er untergekommen ist, durch Gassen zu Kokain-Dealern, in eine Toilette zu billigem Sex und wieder zurück zum Busbahnhof. Andere Figuren kommen ins Bild.

Im Hotel begegnet Keane der abgebrannten Lynn (Amy Ryan), die mit ihrer Tochter Kira (Abigail Breslin) darauf wartet, von ihrem Ehemann nach Albany geholt zu werden. Keane leiht Lynn hundert Dollar, er reißt sich - für den Moment - zusammen, er hat sich unter Kontrolle, es entsteht zwischen den dreien etwas wie eine fragile Freundschaft. Oder vielleicht nutzt Lynn Keane nur aus. Er will jedenfalls mehr, als sie ihm zu geben bereit ist. Aber sie bittet ihn, auf die Tochter aufzupassen, und der Nachmittag und der Abend, die die beiden miteinander verbringen, Eis laufend, bowlend, bei McDonalds essend, macht Hoffnung auf einen Ausweg. Es sind Inseln der Ruhe im Leben Keanes, Momente des Innehaltens in diesem getriebenen und immer weiter treibenden, auch mit einem sehr ambivalenten Schluss zu keiner Schließung gelangenden Film.

"Keane" ist bereits 2004 entstanden und wurde von Steven Soderbergh produziert. Die nun endlich im Regionalcode 2 erschienene britische DVD-Edition enthält auf einer zweiten Disc ein interessantes "Remake" des Films. Soderbergh hat, experimentierfreudig wie stets, einen zweiten, um mehr als zehn Minuten kürzeren Schnitt von "Keane" erstellt. Bei ihm erfährt man sehr viel später erst von Keanes Suche nach der Tochter. Und auch sonst ist die Reihenfolge der Szenen deutlich verändert, das Ende aber ist identisch. "Keane" und "Keane": derselbe Film, ein anderer Film.

Die englische DVD gibt es bei www.amazon.co.uk für rund 18 Euro plus Portokosten

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