Debatte nach Heim-Schließung: „Verstoß gegen Kinderrechte“

Jugendheime mit Stufenvollzug und straffer Tagesstruktur sind unpädagogisch und unsinnig, sagt Erziehungswissenschaftlerin Leonie Wagner.

Eingangstor von Haus Jessern der 2013 geschlossenen Haasenburg. Dort mussten die Bewohner rote, gelbe und grüne Phasen durchlaufen. Foto: dpa

taz: Frau Wagner, die gerade geschlossenen ,Friesenhof‘-Mädchenheime Nana und Campina arbeiteten mit Stufenmodellen. Ähnliches gibt es in anderen Heimen. Sie sagen, das sei nicht mehr ,State of the Art‘?

Leonie Wagner: Ich glaube, das war es noch nie. Und wenn das auch noch so strukturiert ist wie bei der Barbara Janssen GmbH, mit drei verschiedenen Einrichtungen, die jeweils auch für unterschiedliche Phasen stehen, dann ist meine Kritik, dass das für die Jugendlichen einen räumlichen Wechsel bedeutet. Es ist ein Rausreißen aus der Wohnsituation und dem Bindungskontext. Wenn es im Idealfall zuvor gelang, dass ein Mädchen dort jemanden fand, zu dem es eine Vertrauensbeziehung aufbaute, ist es fatal.

Ist das fachlicher Konsens?

Es ist Konsens, das zu einer guten Arbeit eine Bindung gehört. Wir Pädagogen sind Beziehungsarbeiter. Pädagogik gelingt nur, wenn es eine Bindung gibt.

Wenn Mädchen und Betreuer gemeinsam die Stufe wechseln?

Es wäre denkbar, aber kaum zu organisieren: Wenn zwei Mädchen, die den gleichen Erzieher haben, zu unterschiedlichen Zeiten wechseln, können nicht beide die Bezugsperson behalten.

Der Friesenhof stellte laut Leiterin die letzte Anlaufstelle für viele Mädchen dar. Wohin sonst mit schwierigen Fällen?

Schwierige Jugendliche gibt es nicht, sondern nur schwierige Situationen, wenn es in pädagogischen Kontexten zu Eskalationen kommt. Mir liegt ein Bericht eines Mädchens vor, das aus einer Wohngruppe flog. Zuvor kam es zu Demütigungen durch große Machtungleichheiten, beispielsweise weil zwei Fachkräfte vehement auf das Mädchen einredeten. Da wurden professionelle Grundsätze verletzt. Das konnte nur eskalativ enden. Das ist leider öfter der Fall, als man denkt.

43, ist Erziehungswissenschaftlerin und Referentin des Verbands Kinder- und Jugendarbeit Hamburg sowie Redakteurin der Fachzeitschrift Forum.

Wo kam das Mädchen hin?

Zunächst in eine Krisenwohnung. Die Jugendhilfe ist ein Verschiebebahnhof. So lange es für Fachkräfte möglich ist, Jugendliche in eine höher sanktionierende Form auszulagern, machen sie davon Gebrauch, wenn sie überfordert sind. Statt zu überlegen, wie man professionell mit der Lage zu Rande kommt.

In dem Mädchenheim herrscht in den ersten Wochen Kontaktverbot zu Dritten. Ist das zeitgemäß?

Nein. Aber das ist leider ziemlich gängig.

Warum?

Diese verhaltenstherapeutischen Ansätze fußen auch darauf, jemanden zu brechen, um die ungeteilte Macht ausüben zu können. Das gelingt besser, wenn man denjenigen auch sozial isoliert. Kollegen, die dies befürworten, sagen, dass sich die Jugendliche damit besser auf die neue Situation einlassen könnten und aus ihren ach so schädlichen Bezügen erst mal herauskämen, bla, bla. bla. Aber de facto ist es aus meiner Sicht ein eklatantes Missachten des Menschen, den man da vor sich hat. Das darf spätestens dann nicht passieren, wenn jemand psychisch drunter leidet. Das passiert in den meisten Fällen.

Und wenn Mädchen aus dem Zuhälter-Milieu raus sollen?

Tja. Meine These wäre die: In dem Moment, wo sich eine junge Frau in einer Einrichtung gut aufgehoben fühlt, entwickelt sie ein Eigeninteresse, aus diesen Bezügen rauszukommen. Gegen ihren Willen wird es jedenfalls bestimmt nicht fruchten. Aber man sollte in der Pädagogik nicht über Gruppen sprechen. Man muss die Person anschauen und gucken: Was ist da konkret los. Skeptisch muss man immer sein, wenn solche rigiden Maßnahmen in Konzepten stehen.

Sind Heime noch zeitgemäß?

Besser wären wohn- und lebensweltnahe individuelle Hilfesettings. Bringt man Menschen, die sich in krisenhaften Situationen befinden, zusammen, gibt es negative Peer-Effekte.

Bestandteil des Friesenhofs ist eine straffe Tagesstruktur, die halbstundengenau vorsieht, was wann passiert. Zum Beispiel Aufstehen um 5.45 Uhr.

Das darf nicht sein und verstößt nach meiner Auffassung gegen die Kinderrechtskonvention. Oft sind diese jungen Menschen auch erschöpft, weil sie aus Notsituationen kommen. Da habe ich Verständnis, wenn sie erstmal nur schlafen möchten. Tagesstruktur lernt man nicht, wenn aufgezwungen wird, was man um 5.45 Uhr tut.

Was sagt die Forschung zu Stufenmodellen?

Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass es nützt. Was aber in Studien erkennbar wurde, ist, dass sich Stufenmodelle auf das Selbstverständnis der Mitarbeiter auswirken. Die denken schnell nur noch in diesem Prinzip der Verregelung. Mit Pädagogik hat das nichts mehr zu tun.

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