Mythos „wildes Tier“: Faszination und Schrecken

Ob Nilpferde in Tiflis oder Wolfskacke im Vorgarten: Raubtiere setzen eine archaische Angst bei uns frei, die bar jeder Vernunft ist.

Ein Nilpferd steht auf der Straße umringt von Männern

Wirkt recht entspannt – das Nilpferd in Tiflis. Foto: dpa

Es sind Fotos von ikonografischer Wucht, die am Wochenende von der georgischen Hauptstadt Tiflis aus um die Welt gingen: ein Flusspferd, das durch einen verwüsteten Straßenzug stapft. Ein Bär, der an einer Häuserfront auf einem Klimaanlagenkasten kauert, während unter ihm trübe Fluten wüten. Und das mitten in einer europäischen Hauptstadt.

Gleich doppelt wurden die Einwohner von Tiflis an die Urgewalt der Natur erinnert. Ein Unwetter führte zu katastrophalen Überschwemmungen mit zahlreichen Todesopfern und Sachschäden von mehr als 20 Millionen Euro. Besonders schwer erwischt hat es den Zoo der Stadt, viele Gehege wurden zerstört, was dazu führte, dass plötzlich auch Bären, Wölfe, Löwen und Tiger durch die Fluten trieben – und ebenjenes besagte Flusspferd, das vermutlich am wenigsten Probleme mit der Extremwetterlage hatte und eher recht entspannt wirkend seinen Stadtbummel antrat.

Einige der Tiere wurden eingefangen, andere erschossen. In der unübersichtlichen Gemengelage dürfte aber der ein oder andere Zoobewohner noch zwischen den Häusern umherstreifen und den Bewohnern unruhige Nächte bescheren. Zwar ist sicherlich die Wahrscheinlichkeit noch immer erheblich größer, in Tiflis einem Stromkabel oder Auto zum Opfer zu fallen als einem Tiger, dennoch empfiehlt die Stadtverwaltung, die Wohnungen nicht zu verlassen, der wilden Tiere wegen.

Denn das Raubtier setzt eine archaische Angst im Menschen frei, die bar jeder Rationalität ist, während uns gleichzeitig wenig so sehr fasziniert wie der Mythos „wildes Tier“. Weshalb es großer Aufmacher und meistgeklickte Meldung ist, wenn wie am Montag an der Küste von North Carolina zwei Teenager von Haien angegriffen werden. Oder wenn, wie vor zwei Wochen in Südafrika, eine Touristin von einem Löwen attackiert wird. Die paar tausend Toten im landeseigenen Straßenverkehr tauchen dagegen nur als Sammelstatistik am Ende des Jahres in irgendeiner Randmeldung auf.

Und während das halbe Land vor Panik bibbert, weil irgendwo ein Wolf sein Häufchen in den Vorgarten einer Doppelhaushälfte gesetzt hat, findet niemand groß was dabei, sich durch überbordenden Einsatz von Antibiotika resistente Krankheitserreger heranzuzüchten. Aber die haben halt keine Zähne und knurren nicht so furchtbar.

Real-Life-Jurassic-Park

Wie groß die Mischung aus Faszination und Schrecken gegenüber dem wilden Tier ist, hat sich – seltsame Koinzidenz – ebenfalls an diesem Wochenende eindrucksvoll bestätigt. Da mochten die Kritiker zuvor schimpfen, wie sie wollten, das Saurier-Epos „Jurassic World“ hat den erfolgreichsten Filmstart aller Zeiten hingelegt.

Mehr als eine halbe Milliarde Dollar haben Menschen weltweit ausgegeben, um sich anzuschauen, wie die scheinbar bezähmte Kreatur ihre Einfriedung überwindet und ihre ehemaligen Beherrscher als kleine Zwischenmahlzeit enden lässt. Das Geld fürs Kino immerhin konnten sich die Bewohner von Tiflis sparen, sie bekamen denselben Thrill frei Haus. Zwar nicht mit Dolby-Surround-Sound, dafür aber in perfektem 3-D.

Da haben wir nun schon alles unternommen, um uns die Natur vom Hals zu halten, sind in Städte gezogen, fahren in einem abgeriegelten Stahlkasten durch die Gegend und regeln zu Hause die Temperatur – und plötzlich sitzt ein Bär auf der Klimaanlage und erinnert uns daran, dass wir eigentlich auch nur ein Teil des alten Fressen-und-gefressen-werden-Spiels sind. Womöglich sieht man sich eben doch immer zweimal im Leben.

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