Hilfe beim Abtauchen

Half der Thüringer Verfassungsschutz dem Neonazitrio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe 1998 beim Abtauchen? Hatte der Dienst danach weiterhin Kontakt zu ihnen? Dieser ungeheuerliche Verdacht rückt immer näher. Die jüngste Sitzung des Berliner Untersuchungsausschusses lieferte dafür weitere Hinweise

von Thomas Moser

Wie schon der Ausschuss des Landes Thüringen nahm sich am 17. Januar das Gremium in Berlin den Anfängen der Neonazi-Terrorgruppe aus Jena an. Am 26. Januar 1998 waren die drei aus der Stadt geflohen und blieben bis zum Tod der beiden Männer am 4. November 2011 unentdeckt – offiziell zumindest. Dazwischen sollen sie mindestens zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Banküberfälle begangen haben. Der Auftritt des damaligen Vizepräsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes, Peter Jörg Nocken, bei der jüngsten Sitzung endete mit einem Eklat. Weil er eine einzige Rechtfertigungsrede auf das Amt hielt, setzte ihn der Ausschuss vor die Tür.

Zu Beginn des Sitzungstages stellen sich die Fraktions-Obleute der Presse.

Hartfrid Wolff, FDP: „Aus den Akten hat man den Eindruck, dass die Rechtsextremisten in Thüringen so stark beobachtet worden sind, dass von ihnen keiner aufs Klo gehen konnte, ohne dass der Verfassungsschutz nicht dabei war. Umso bemerkenswerter, dass das NSU-Trio untertauchen und unbemerkt deutschlandweit agieren konnte.“

Petra Pau, Linksfraktion: „Mich bewegt die Frage, warum der Verfassungsschutz die Ermittlungen der Polizei behindert bzw. beeinflusst hat. Herr Nocken soll uns sagen, was damals auch unter seiner Leitung geschehen ist.“

Clemens Binninger, CDU: „Uns fiel auf, dass man der gefundenen Adressliste von Mundlos zu lange zu wenig oder gar keine Beachtung geschenkt hat: Adressen aus Bayern, Baden-Württemberg, Rostock. Was hat man mit dieser Adressliste gemacht?“

Das Interesse der Öffentlichkeit ist groß, die Zuschauertribüne voll besetzt: Journalisten, Bürger, eine Anwältin von Beate Zschäpe, der Anwalt einer Opferfamilie. Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy, SPD, fragt zu Beginn, ob sich unter den Zuschauern Vertreter des LKA oder des Landesverfassungsschutzamtes aus Thüringen befinden. Niemand meldet sich. Edathy eröffnet die Sitzung.

Mario Melzer, 42, ist Kriminalhauptmeister beim LKA in Erfurt. Er war Mitglied mehrerer Sonderkommissionen, die seit den 90er-Jahren gegen Rechtsextremisten in dem Bundesland ermittelten. Melzer fällt aus der Reihe. Er ist einer der wenigen Zeugen aus den Sicherheitsorganen, die über Fehler und Ungereimtheiten bei den Ermittlungen gegen die NSU-Gruppe berichten. Er hat das bereits vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss getan, wie vor der Kommission des früheren Bundesrichters Gerhard Schäfer, die den Behörden in Thüringen vielfaches Fehlverhalten bescheinigte.

Das hat Melzer, je nach Sicht, zum Aufdecker oder zum Nestbeschmutzer gemacht. Jedenfalls zum Dissidenten, so wie den Stuttgarter Ex-Verfassungsschützer Stengel oder den Karlsruher Bundesanwalt Förster. Melzers einziger Schutz ist die Öffentlichkeit. Er muss reden, so oft und so ausführlich wie möglich. Das nutzt er auch jetzt und berichtet zwei Stunden lang am Stück.

Die Region von Jena bis Saalfeld war in den 90er-Jahren Aktionsgebiet von Neonazis des Thüringer Heimatschutzes (THS) und der Kameradschaft Jena, darunter Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe oder auch Ralf Wohlleben. Zu ihrem Programm gehörten Angriffe auf linke Jugendliche, Wehrsportübungen auf alten Truppenübungsplätzen, rituelle Kreuzverbrennungen in der Manier des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan. Der damalige LKA-Präsident warnte vor der Gefahr einer „braunen RAF“, so Melzer vor dem Ausschuss. Im Herbst 1997 wurden in und bei Jena drei Sprengstoffbomben gefunden, die unschädlich gemacht werden konnten. Spuren führten zu Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt.

Für den 26. Januar 1998 war die polizeiliche Durchsuchung dreier Garagen vorgesehen. Zwei gehörten den Familien Mundlos und Böhnhardt, die dritte hatte Zschäpe angemietet. Bei der Aktion tauchte plötzlich Uwe Böhnhardt auf, dem der Durchsuchungsbeschluss für alle drei Objekte gezeigt wurde. Noch am selben Morgen waren die drei Neonazis verschwunden, schlagartig. „So etwas ist untypisch“, erklärt der Kripomann Melzer.

In der von Zschäpe angemieteten Garage fand die Polizei TNT-Sprengstoff. Nun wurde Haftbefehl erlassen. Der Generalbundesanwalt lehnte es damals aber ab, die Ermittlungen zu übernehmen. Unter den Dingen, die in der Garage noch gefunden wurden, ist das Adressbuch von Uwe Mundlos. Es liest sich, wie der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger erklärt, wie eine „Landkarte der späteren Tat- und Unterschlupforte der NSU-Gruppe: Chemnitz, Rostock, Nürnberg, Ludwigsburg, Raum Heilbronn …“

Einer der Namen auf der Adressliste ist Thomas Richter. Richter war Chef der NPD-Jugendorganisation in Halle und Mitglied des deutschen Ku-Klux-Klan-Ablegers, dem auch Polizeibeamte aus Baden-Württemberg angehörten. Der KKK könnte das Bindeglied zwischen den NSU-Terroristen und dem Mordfall in Heilbronn sein. Damit nicht genug: Richter arbeitete unter dem Decknamen „Corelli“ auch für das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Was die Öffentlichkeit bisher ebenfalls nicht zur Kenntnis nahm: Eigentümer der Garage, in der die Funde gemacht wurden, war ein Beamter der Kriminalpolizei-Inspektion Jena. Um welchen Beamten genau es sich handelt und wie Zschäpe an die Garage kam, kann Mario Melzer nicht sagen. Er weiß aber, dass der Hinweis auf die Garage vom Verfassungsschutz kam. Wolfgang Wieland, der Obmann der Bündnisgrünen, versucht die Ausführungen Melzers zusammenzufassen:

Wolfgang Wieland, Grüne: „Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre Hypothese, diese Garage stand schon lange unter Beobachtung des Verfassungsschutzes; sie war mit dessen Wissen und Willen eingerichtet worden; jetzt wurde es zu heiß; das LfV informierte das LKA, versuchte aber gleichzeitig eine Verhaftung der drei zu verhindern.“

Melzer hört sich das an und sagt: „Ja, so könnte man die Hypothese sehen.“

Dann berichtet der Kriminalbeamte weiter von den vielen Merkwürdigkeiten um den Drilling Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe. Vor allem, dass fast 14 Jahre lang keinerlei Spuren von ihnen zu finden waren. Auch die bis dahin erfolgreichen Zielfahnder des LKA, die zum Beispiel Beate Zschäpe in einem anderen Zusammenhang schon einmal aufgespürt hatten, kamen nicht weiter. Für die Ermittler sei unvorstellbar gewesen, dass drei mit Haftbefehl Gesuchte so einfach im Untergrund leben konnten ohne Hilfe. Im Kollegenkreis, so Melzer, waren etliche der Überzeugung, dass der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel haben müsste.

Zielfahnder Sven Wunderlich, dem der Ruf vorauseilte, er kriege jeden, hat unter anderem vor der Schäfer-Kommission den Verdacht geäußert, dass vor allem Beate Zschäpe für das LfV arbeitete. Wunderlich wird auf der nächsten Sitzung am 31. Januar vor dem Ausschuss in Berlin aussagen.

Clemens Binninger zitiert nun aus Vernehmungsprotokollen der Schäfer-Kommission vom Frühjahr 2012. Danach hatte ein früherer LfV-Mitarbeiter erklärt, das Amt habe Zschäpe als V-Frau gewinnen wollen. Wegen ihres Betäubungsmittelkonsums, sprich Drogen, habe man aber darauf verzichtet. Dem Ermittler Melzer kommt das seltsam vor. Er hatte Zschäpe einmal vernommen. Von einem angeblichen „BTM“-Konsum wisse er nichts. Das sei normalerweise auch kein Hindernis für eine Anwerbung – eher im Gegenteil.

Wolfgang Wieland will es jetzt genau wissen: „Herr Melzer“, sagt er und wagt sich ganz weit vor, „mein Eindruck ist, dass die drei bis heute vom LfV Thüringen gedeckt werden.“ Und nach kleiner Kunstpause: „Oder sehe ich das falsch?“ – „Das sehen Sie richtig!“, antwortet der Angesprochene und ergänzt: „Und andere Kollegen sehen das auch so.“ Der Kriminalhauptmeister setzt sogar noch einen drauf. Der Chef der Zielfahndung habe einmal den Vater von Uwe Mundlos geblufft und gesagt, sie wüssten, dass sein Sohn für den Verfassungsschutz arbeite. Vater Mundlos habe geantwortet: „Ja, wenn Sie es sowieso wissen, warum fragen Sie dann?“

Oberstaatsanwalt Gerd Michael Schultz war 1998 in der Staatsanwaltschaft Gera für die Ermittlungen gegen die Neonazis zuständig. Auch ihm erschließen sich die Hintergründe der erfolgreichen Flucht der drei Jenaer bis heute nicht. Sebastian Edathy konfrontiert ihn mit seiner Aussage vor der Schäfer-Kommission im März 2012. Danach äußerte Schultz die Vermutung, dass alle drei – Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe – Informanten des Verfassungsschutz gewesen sind. „Richtig, das habe ich gesagt“, quittiert der Zeuge. Edathy will wissen, ob das immer noch seine Einschätzung sei. „Nein, nicht mehr ganz“, so der Oberstaatsanwalt wörtlich. Denn dass Böhnhardt damals plötzlich bei der Durchsuchung auftauchte, könnte ja auch Zufall gewesen sein. Sehr überzeugt hört sich das nicht an. Und der Staatsanwalt verfügt noch über mehr seltsame Erfahrungen mit dem Verfassungsschutz.

Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe wären demnach nicht die einzigen V-Leute in der Naziszene gewesen. Eine Schlüsselrolle spielt Tino Brandt, ein führender Neonazikader im Thüringer Heimatschutz, der mindestens zwischen 1994 und 2001 als V-Mann für das LfV Thüringen tätig war, Deckname „Otto“. Brandt besaß von 2004 bis 2008 ein Haus in Kochersteinsfeld, wenige Kilometer nördlich von Heilbronn. Wozu, ist bis heute nicht klar. Brandt, so Oberstaatsanwalt Schultz, war aktiv an mehreren Straftaten beteiligt: schwere Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch, Übergriff auf Polizeibeamte.

„Ich wollte ihn hinter Gitter bringen“, sagt der Zeuge, der damals nicht gewusst haben will, dass Brandt ein VS-Informant war. Doch der Verfassungsschutz intervenierte, man solle Brandt in Ruhe lassen und die Ermittlungen einstellen. „Das ist doch Einflussnahme!“, bemerkt Sebastian Edathy. Und Schultz darauf: „Ich habe das nicht als Einflussnahme gesehen, eher als Hinweis.“ Damals habe es einen regen Austausch zwischen der Staatsanwaltschaft und den Nachrichtendiensten gegeben, Verfassungsschutz, aber auch MAD.

Sebastian Edathy, SPD, Ausschussvorsitzender: „Was ist unter regem Erfahrungsaustausch zu verstehen?“

Gerd Michael Schultz, Oberstaatsanwalt: „Mitarbeiter des LfV kamen zu uns in die Behörde und nahmen Akteneinsicht.“

Edathy: „Ich verstehe unter Erfahrungsaustausch etwas anderes.“

Schultz: „Es war kein Austausch in dem Sinne, dass ich Neuigkeiten erfahren hätte. Eher so, dass LfV und MAD uns abgeschöpft haben.“

Edathy: „Also eine Einbahnstraße.“

Schultz: „Ja.“

Edathy: „Worin nahmen die Einsicht?“

Schultz: „In Ermittlungsakten.“

Edathy: „Wie oft?“

Schultz: „Öfter. Alle paar Wochen.“

Edathy: „Gab es dafür eine Rechtsgrundlage?“

Schultz: „Ja.“

Zuschauer: „Welche?“

Eva Högl, SPD: „Was war die Rechtsgrundlage?“

Schultz: „Kann ich nicht mehr sagen.“

Edathy: „Wurde die Akteneinsicht dokumentiert?“

Schultz: „Ich glaube, ich habe einen Vermerk gemacht. Aber ich war auch nicht immer da.“

Jens Petermann, Linksfraktion: „Sie arbeiten doch immer noch als Staatsanwalt. Insofern müssten Sie doch wissen, welche Rechtsgrundlage es gibt.“

Schultz: „Es war mit der Behördenleitung abgesprochen.“

Petermann: „Rechtsgrundlage ist das Thüringer Verfassungsschutzgesetz. Dass VS-Beamte bei der Staatsanwaltschaft im Büro auftauchen, ein solches Verfahren ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen. Sondern: Das Amt richtet ein Ersuchen auf Übermittlung der Informationen. Die Staatsanwaltschaft hat dieses Ersuchen aktenkundig zu machen.“

Weil die drei einfach nicht zu finden waren, kam es zu einem völlig ungewöhnlichen Vorgang vonseiten der Staatsanwaltschaft. Etwas, so Schultz wörtlich, „was ich vorher und nachher nicht mehr erlebt habe“. Die Behörde schrieb einen Brief an das LfV und formulierte etwa 20 Fragen mit der Zielrichtung, ob das Amt wisse, wo sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe aufhielten, ob die drei vielleicht Mitarbeiter des Amtes oder zumindest für es tätig seien. Und dann?, will der Ausschuss wissen. Dann, so Schultz, sei ein LfV-Vertreter gekommen und habe alle Fragen mit „Nein“ beantwortet. Wer war der Mann? Schultz: „Entweder Herr Nocken oder Herr Roewer, der Präsident des LfV.“ Das Schreiben der Staatsanwaltschaft mit den Fragen an das LfV ist nicht in den Akten, es ist bis heute verschwunden.

Um 20 Uhr sitzt er selber vor den Abgeordneten, Peter Jörg Nocken, 67 Jahre alt und von 1997 bis 2001 VS-Vize in Thüringen. Der Mann, der seine Geheimdienstlaufbahn vor fast 40 Jahren beim Verfassungsschutz in Hessen begann, möchte zunächst auf die Vorwürfe der Schäfer-Kommission eingehen, das LfV Thüringen habe sich nicht an Vorschriften gehalten und Informationen unterdrückt. Er hält eine Stunde lang eine einzige Rechtfertigungsrede, die sich so zusammenfassen lässt: Das Amt hat alles richtig gemacht, und die Schäfer-Kommission liegt von vorne bis hinten daneben.

Auftritte in diesem Stil hat der Ausschuss inzwischen mehrfach von Vertretern der Exekutive erlebt. Doch das Unternehmen des Exverfassungsschützers endet an diesem Tag im Desaster. Im Laufe seines Vortrages wird es immer unruhiger. Die Abgeordneten unterhalten sich oder kaufen am Verpflegungswagen belegte Brötchen. Als sich Nocken zum Schluss den Satz getraut, wenn man das Verfassungsschutzamt in Ruhe hätte arbeiten lassen, wäre einiges der NSU-Taten verhindert worden, ist das Fass voll. Die Ausschuss-Häuptlinge Edathy und Binninger beraten sich. Der CDU-Obmann geht dann von Fraktion zu Fraktion am runden Tisch entlang und macht eine Art Abstimmung. Die präsentiert Edathy nun dem Zeugen: „Ihr Vortrag hat bestätigt“, sagt er, „dass eine grundlegende Reform des Verfassungsschutzes nötig ist. In Absprache aller fünf Fraktionen: Sie sind entlassen!“

Ein Rauswurf erster Klasse. Der Geheimdienst-Pensionär packt seine Sachen und steht dann noch minutenlang verloren vor der Tür. Er versteht nicht. Am 31. Januar erscheint Thomas Sippel vor dem Ausschuss, von 2000 bis 2012 Präsident des Verfassungsschutzes in Thüringen.