Die Karten neu verteilen

Reanactment Milo Rau inszeniert sein „Kongo Tribunal“ in den Berliner Sophiensaelen – nun geht es vorrangig um die Verantwortung der multinationalen Unternehmen, Weltbank, EU und NGOs an den Kriegen im zentralafrikanischen Land

Die Sophiensaele in Berlin wurden vier Tage lang zum Gerichtssaal Foto: Daniel Seiffert

von Elise Graton

Die für Berlin ungewohnt schwüle Hitze ist bis in den Theatersaal der Sophiensaele gesickert. Das Publikum versucht sich notdürftig mit Programmflyern von „Das Kongo Tribunal – Teil 2“ ein wenig Wind zuzufächeln.Vor einem Monat fand der erste Teil der vom Schweizer Regisseur Milo Rau initiierten Reihe in der Stadt Bukavu statt. Dort, in dem von Krisen gebeutelten Osten des Kongo, muss die Luft allerdings merklich dicker gewesen sein. Raus Tribunal-Inszenierungen sind zwar fiktiver Natur – es wird weder bestraft noch entschädigt –, und doch werden hier echte Fälle mit echten Zeugen vor echten Experten verhandelt.

Fälle, die nie den Weg in einen amtlichen Gerichtssaal gefunden haben, wie etwa der Konflikt zwischen Bevölkerung und Minenarbeitern mit zwei westlichen Bergbaufirmen und ein Massaker, dem 35 Menschen zum Opfer fielen. Am Zeugenpult auf der Bukavuer Theaterbühne übergaben sich drei Tage lang kongolesische Regierungs- und Oppositionspolitiker das Mikrofon, trafen Militärs auf Rebellen, und Minenbaufirmenvertreter auf -arbeiter – Leute, die selten den selben Raum betreten, geschweige denn miteinander reden würden.

Das Berliner Jurymitglied Marc-Antoine Vumilia war während der Bukavu-Hearings im Kongo nicht dabei. 2003 wurde der ehemalige kongolesische Politiker wegen des Verdachtes auf Mord an dem damaligen Präsident Laurent-Désiré Kabila verurteilt, 2013 gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis, nun lebt er im schwedischen Exil. Genau wie das Berliner Publikum erfährt auch er durch Raus gesammeltes Videomaterial, das die Anhörungen eröffnet, Genaueres über die aktuelle Lage in der Region von Bukavu.

„Es ist das erste Mal, dass ich einen Minenarbeiter persönlich seine Situation schildern höre“, sagt Vumilia im Gespräch mit der taz. „Die elitären kongolesischen Zeitungen haben praktisch das Monopol auf Meinungsäußerung. Selbst das Wort zu ergreifen, wie hier bei Raus Tribunalen, ist eine einzigartige Gelegenheit.“

Von den einzelnen Fällen ausgehend, die jeweils in einer eigenen Session verhandelt werden und exemplarisch für die ostkongolesische Misere stehen, wird nun die Verantwortung der multinationalen Unternehmen und der Weltbank, der EU und der Schweiz, und schließlich auch der NGOs und der Vereinten Nationen untersucht. Das alles vor dem Hintergrund des anhaltenden Krieges und dem Leid der Bevölkerung, während das globale Geschäft mit den Bodenschätzen des Landes weiterhin floriert.

In Berlin treten als Zeugen hauptsächlich Intellektuelle, JournalistInnen und AktivistInnen auf – „aber leider keine Vertreter der Multinationalen“, wie der kongolesische Oppositionspolitiker Vital Kamerhe bemängelt, der nach dem Ende der zweiten Session bekundet, dass er in Berlin immerhin um ein paar Erkenntnisse reicher geworden ist: „Die Gesetze, die in den USA und Kanada zur Unterbindung des unkontrollierten Rohstoffexports aus Konfliktzonen beitragen sollten, hielt ich zunächst für gut“. Nun werde ihm klar, dass die Gesetze nicht die realen lokalen Begebenheiten reflektieren und zur Kriminalisierung und Radikalisierung der einheimischen Akteure führen.

Von Raus Projekt erhofft er sich, dass medienwirksam „an die über sechs Millionen Opfer der kongolesischen Kriege der letzten 20 Jahre erinnert wird“, so der strahlende Präsidentschaftskandidat für die kommenden Wahlen. Hinter ihm drängeln sich seine Begleiter, ebenfalls Oppositionelle, die aus Großbritannien, Frankreich, Dänemark zum Theater-Tribunal nach Berlin gereist sind, um Selfies am Zeugenpult von sich zu machen.

ist ein von Regisseur Milo Rau inszeniertes fiktives Gerichtsverfahren, bei dem reale Akteure verhört werden, die während der Kriegsjahre im Kongo waren.

Ende Mai hat Milo Rau das Tribunal in Bukavu im Ostkongo auf die Bühne gebracht, in Berlin endete das Tribunal am Montag mit der Präsentation der „Befunde“. In der taz hat Milo Rau über seine Arbeit im Kongo berichtet. Über das Tribunal in Bukavu siehe taz vom 2. 6., Interview mit Milo Rau siehe taz vom 23. 6. 2015

Einer der größten Lieferanten des zur Herstellung moderner Elektronik unentbehrlichen Minerals Coltan ist der Kongo. Doch verantwortungsbewusster Konsum bleibt nur ein Stichwort am Rande. Generell gibt es nur wenig Reibungsfläche und kaum Kontroversen. Fakten werden konzentriert vorgetragen und hinterfragt, Missstände und Lücken in den kongolesischen wie internationalen Gerichtsbarkeiten offengelegt und seziert, Image und Wirklichkeit von humanitären Unternehmen auf den Prüfstand gestellt, nach Alternativen gesucht.

Dabei stehen jedem Experten vier mal fünf Minuten zur Verfügung, um sich zu den Juryfragen zu äußern. Die Zeit reicht kaum, um komplexen Sachverhalten auf den Grund zu gehen, aber es genügt gerade, um einen anhaltenden Einblick in die verflochtene globale Mechanik zu erhalten – und um das Gefühl zu entwickeln, man nehme gerade an einer neuen Art des Dialogs teil.

Und wenn es ungeheuerlich spannend wird, genehmigt Gerichtsvorsitzender Jean-Louis ­Gilissen, der auch im echten Leben Anwalt ist, ausnahmsweise ein bis zwei zusätzliche Minuten. Um ein richterliches Urteil geht es seiner Meinung nach bei dem Projekt ebenso wenig wie um moralischen oder sozialen Erfolg. „Die Bürger werden über unsere Leistung urteilen müssen.“ Vielmehr sieht er den eigentlichen Sinn der Veranstaltung als Versuch, zur Initiative einer Bewegung beizutragen. „Es ist der Versuch, die Karten neu zu verteilen.“