Einer, der das Dorf bewegt

BÜHNE Abdullah Kenan Karaca, in fünf Jahren Koleiter der Passionsspiele, gibt in Oberammergau seinen Regieeinstand mit leichtem Sommertheater: „Romeo und Julia“

Liebe als (Kinder-)Spiel: Maximilian Stöger (Romeo), Sophie Schuster (Julia) Foto: Arno Declair

von Sabine Leucht

Nun ist er wieder zu Hause: Abdullah Kenan Karaca, Regiestudent in Hamburg und früherer Assistent des Passionsspielleiters Christian Stückl, wurde just vor seiner „Romeo und Julia“-Premiere in Oberammergau vom dortigen Gemeinderat als Kospielleiter der „Passion“ 2020 bestätigt. Womit Stückl, der seit 1990 die Entstaubung und Professionalisierung dieser Kultveranstaltung vorantreibt und vor zehn Jahren den Touristen und der Spiellust seiner Dörfler den „Theatersommer“ schenkte, vermutlich seinen Nachfolger eingeführt hat.

Ja, der 26-Jährige erfüllt die wichtigste der (nur bedingt aufweichbaren) Regeln um die „Passion“: Karaca ist Oberammergauer. Und da er 2016 auch das Regiediplom in der Tasche haben wird, ist er eigentlich der Kandidat für den Job. Wenn man über dem begeisterten Premierenapplaus für seinen Einstand mal kurz vergisst, dass es alles andere als selbstverständlich ist, als Muslim (mit türkischen Wurzeln) auch nur einen Fuß in ein für Dorf und Region derart identitäts- und prosperitätsstiftendendes Großereignis zu bekommen.

Die auf ein Pestgelübde zurückgehende Tradition, alle zehn Jahre mit vereinten Kräften die Geschichte vom Leiden und Sterben Christi nachzuspielen, pflegt das Holzschnitzerdorf seit 1634. Im Jahr 1990 erregte man sich über den ersten Protestanten in einer Hauptrolle. Der erste Muslim auf der Freilichtbühne war 2010 eben jener Abdullah, der sich jetzt in einem Zelt an seine künftige Wirkungsstätte heranpirscht, indem er im zehnten „Theatersommer“ den ersten Oberammergauer Nicht-Stückl-Abend seit gut 25 Jahren inszeniert — und erst das zweite Stück im tiefkatholischen Herrgottswinkel mit Herrgotts-Absenz.

Schlicht jugendliche Liebe

Er und Stückl diskutierten viel über Religion, bekannte Karaca unlängst. Und — das sagt er immer wieder: Sein Theater wolle nicht von Migranten erzählen, sondern davon, was Menschen verbindet. Dass er 2012 mit „Arab­boy“, der Geschichte des in Neukölln gestrandeten Rashid, zum Durchbruch kam, heizte das Interesse an dem Debütanten wohl dennoch stark an. Dass sein Woyzeck 2014 Sohel Altan G. hieß, spiegelt dagegen nur den selbstverständlichen Umgang mit Integration an Christian Stückls Münchner Volkstheater.

Dass das bekannteste Liebespaar der europäischen Theatergeschichte gut auf unterschiedlichen Seiten eines religiösen Konflikts stehen könnte, müssen auch weiterhin andere erzählen. Karaca inszeniert — in der heutig-rauen Übersetzung von Thomas Brasch — schlicht jugendliche Liebe. Und zwar so, dass zwischen Romeos vermeintlich unsterblichem Unglück wegen Rosalind und dem der 14-jährigen (!) Julia Anheimfallen keine Masken und keine nächtlichen Schleier mehr stehen. Auf dem Ball der Capulets wird das hormongesteuerte Verhängnis buchstäblich von Romeos Freunden angeknipst: Einer von ihnen zeigt auf Julia, sagt „die!“ — und die Emotionen kochen über.

Karaca rückt jene Art von Gefühl ins Zentrum, das vom Auge direkt in den Unterleib schießt. Sein Romeo Maximilian Stöger ist in die Liebe und das blumige Darüber-Reden verliebt. Und die mädchenhafte Julia Sophie Schuster springt nur auf den Zug auf, der sie am schnellsten vom lästigen Grafen Paris entfernt. Diese Liebe ist ein (Kinder-)Spiel – unter der schlampigen Leitung von (Pater) Lorenzo, der hier als Althippie feixend oder versonnen in die Sterne am Zelthimmel schaut. Gäbe es die durch die Morde an Mercutio und Tybalt unauflöslich gewordene Familienfehde nicht, wäre der Sturm der Emotionen vermutlich so schnell wieder abgeflaut wie die bewusst provisorisch gehaltene Bühne demontiert.

Karaca, dessen schnell getaktetes, episodisches Theater bislang sehr auf die Schauspieler setzte, ist kein großer Abend gelungen und kein besonders berührender. Er zeigt zwar, dass er auch Laien in Szene setzen kann, was er bei 5.600 Oberammergauern, von denen fast die Hälfte zur Bühne drängt, künftig auch muss. Er greift aber allzu oft zu stimmungsmalerischer Musik, pflegt eine eindeutige Symbolsprache mit vielen sexuell konnotierten Gesten und nutzt Ursula Maria Burkhart als Paradepferd, die als alleinerziehende Lady Capulet eine monströse Mutterfregatte gibt.

Doch genau diese wenig subtilen Stellen werden durch Szenenapplaus zur Sommertheatertauglichkeit geadelt und würden ja auf der Panoramabühne des Passionstheaters tatsächlich anders wirken. In dessen weit ansteigende Sitzreihen passt noch einmal fast das ganze Dorf, dessen Herz Abdullah Karaca offenbar bereits gehört.

Ob er die Dörfler auch in Massen und auf der Bühne so eindrucksvoll bewegen kann, wird sich zeigen.