Vollständig ins Englische übersetzt
: Kleine Feier für die Brüder Grimm

Die Grimmschen Märchen der ersten Fassung von 1812 und 1815 „speak more frankly to us“, schreibt Jack Zipes

Vor drei Jahren wurden schon einmal 200 Jahre „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm gefeiert, ziemlich ausgiebig sogar, mit Porträts und Hintergrundartikeln. Wer mag, kann das dieses Jahr gleich noch einmal tun. Denn gefeiert wurde 2012 der 1812 erschienene erste Band der ersten Ausgabe dieser so ein­fluss­reichen Märchensammlung. Der zweite Band erschien aber 1815, so dass die Sammlung erst jetzt vor 200 Jahren vollständig war. Die endgültige, heutzutage meist gebräuchliche Fassung der Märchen letzter Hand erschien dann erst 1857. 2057 kann dann also noch eine 200-Jahr-Feier anstehen.

Eine gute Gelegenheit, das Jubiläum jetzt wenigstens ganz für sich und mit einigem intellektuellen Gewinn zu begehen, bietet die New York Review of Books in ihrer Ausgabe vom 9. Juli. Denn die erste Grimm-Ausgabe ist nun zum ersten Mal vollständig ins Englische übersetzt worden, von dem großen Grimm-Kenner Jack Zipes; und die NYRB widmet diesem Ereignis eine umfangreiche Besprechung, die, wie so oft bei diesem Magazin, dankbar angereichert ist durch wissenswerte Seiteninformationen und nützliche Hinweise.

Natürlich wurden die Märchen von den Grimms keineswegs nur zur Unterhaltung gesammelt. Vielmehr ging es ihnen um die Gründung einer deutschen Kulturnation, das in Kleinstaaten zersplitterte deutsche Volk sollte sich in seinen tradierten Erzählungen konstituieren – sehr erhellend, mit welcher Coolness Marina Warner, die Autorin des Besprechungsessays, die Probleme dieses Gründungsprojektes aufschreibt: „Die Aufgabe der Brüder war ideologischer, als sie wissen konnten.“ Denn die Sagen und Narrationen, auf die ihre Ausgabe fußt, hatten in Wirklichkeit sehr unterschiedliche europäische Ursprünge und Einflüsse. Die Grimms haben so, was deutsch ist, erst miterfunden.

Dass die frühen Fassungen gegenüber der Ausgabe von 1857 rauer, teilweise grausamer und sexuell anspielungsreicher waren, ist bekannt – „they speak more frankly to us“, schreibt Jack Zipes. Was man in dem Artikel auch detailliert vorgeführt bekommt. Und wirklich interessant ist es, auf die Wechselwirkungen hingewiesen zu werden, die von der ersten Ausgabe ausgingen und auf sie zurückwirkten. Auch in dieser Hinsicht sind die Märchen nicht so authentisch deutsch, wie die Grimms dachten. So wurde eine Auswahl der Märchen bereits 1823 und 1826 ins Englische übersetzt, mit Zeichnungen illustriert und in England ein großer Erfolg – auch das veranlasste die Grimms dazu, die Märchen in Bearbeitungen fortan familien­freundlicher zu machen. drk