Aus „Le Monde diplomatique“: „Keine Lust auf Haus, Kind, Ehemann“

In der kurdischen Armee gibt es ein eigenes Frauenbataillon. Aber in der Region kommt die Emanzipation nur langsam voran.

Eine Kämpferin in Sinjar, im Nordwesten Iraks

Eine Kämpferin in Sinjar, im Nordwesten Iraks. Foto: reuters

Helan Abdulla alias Helly Luv ist die neue Symbolfigur im erbitterten Kampf der Kurden gegen den Islamischen Staat (IS). 2015 drehte die Popsängerin in einem verlassenen Dorf bei Mossul, zweieinhalb Kilometer von den Stellungen des IS entfernt, das Video zu ihrer neuen Single „Revolution“. Sie trägt einen Kampfanzug, um den Kopf ein goldverziertes Palästinensertuch, an den Handgelenken Armbänder aus Patronenhülsen, und steigt in einen Panzer, an dem die kurdische Flagge weht. Ihre Musik ist eine Mischung aus traditionellen Klängen und modernen Rhythmen, die auch von Beyoncé oder Britney Spears stammen könnte. Nur die Texte sind anders. Da ruft sie dazu auf, „alles zu riskieren“ – für Kurdistan.

Hellys patriotische Popsongs sind international erfolgreich, ihr Video zu „Risk it All“ von 2013 wurde auf Youtube fast 4 Millionen Mal angeklickt. Hier sieht man sie umringt von Kämpferinnen mit geschminkten Augen und lackierten Fingernägeln, die Kalaschnikows durch die Luft schwenken. Die Clips der Sängerin, die in Finnland aufgewachsen ist, transportieren also auf etwas übertriebene Weise die besondere Ausstrahlung, die den kurdischen Kämpferinnen oft zugeschrieben wird. Es scheint der Sache nicht zu schaden. Im Gegenteil: Weltweit wächst das Interesse an den Frauen an der Front.

Die kurdischen Befehlshaber haben indes nicht erst auf den Kampf gegen den IS gewartet, um militärische und politische Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen. Schon 1909 wurde Adila Khanim als Nachfolgerin ihres Ehemanns Gouverneurin von Halabdscha und Oberhaupt des Jaf-Stamms, einem der größten in ganz Kurdistan. Mit ihr, heißt es, kehrten in Halabdscha wieder Recht und Ordnung ein. Auch Nahida Ahmed Rachid und Aila Hama Amin Ahmed vom Frauenbataillon 106, das 1996 in Sulaimaniyya gegründet wurde, berufen sich auf Khanim, die die Briten einst respektvoll Lady Adela nannten.

Die beiden Offizierinnen, die von Anfang an im Bataillon dabei sind, sprechen ohne Zögern von der „Notwendigkeit, zu den Waffen zu greifen, um unsere bedrohte Nation zu verteidigen“, und davon, dass sie unmöglich zu Hause bleiben könnten, während sich ihre Landsmänner auf dem Schlachtfeld opferten. Die beiden verschweigen aber auch nicht die Widerstände, auf die sie innerhalb der kurdischen Gesellschaft im Irak gestoßen sind. „Wir mussten viele Bewährungsproben bestehen, das war hart“, erzählt Aila, die unverheiratet geblieben ist, um ihr Leben ganz dem Kampf zu widmen. „Die Freiheit, Soldatin zu werden, war kein Gefallen, den uns die Männer gewährt haben. Wir haben dafür gekämpft.“ Und Nahida ergänzt: „Eine Soldatin imitiert nicht einfach ein männliches Vorbild. Es ist ihr gutes Recht, eine Waffe in die Hand zu nehmen.“

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.

Bei aller Bewunderung für die kurdischen Kämpferinnen sollte man nicht vergessen, dass sie von den männlichen Kurdenführern auch instrumentalisiert werden. Das Frauenbataillon weckt große Sympathien und zieht ausländische Hilfe im Kampf gegen den IS an. Weniger gern reden die Soldatinnen über die Unterdrückung von Frauen innerhalb der kurdischen Gesellschaft im Irak. Auch von der These, dass die Armee es den Frauen erst ermögliche, sich zu emanzipieren, halten Aila und Nahida nichts. Ihrer Ansicht nach sind die kurdischen Frauen im Irak vollkommen frei. Und sie würden auch nicht zum Militär gehen, um den Männern gleichgestellt zu sein.

Ehrenmorde und Zwangsheirat

Tatsächlich sind diese patriotischen Amazonen alles andere als repräsentativ und eher eine Randerscheinung: Das Frauenbataillon 106 hat gerade mal 500 bis 600 Mitglieder. Hinzukommen ein paar Dutzend Soldatinnen in anderen Einheiten, insgesamt zählen die kurdischen Streitkräfte 190 000 Mann.

Im Trubel um die Kämpferinnen geht die tatsächliche Lage der Kurdinnen im Irak unter, die viel ambivalenter ist als Hellys holzschnittartige Auftritte. Khanim Latif, Leiterin der Frauen-NGO Asuda in Sulaimaniyya, zählt die Missstände auf, an erster Stelle die häufigen „Ehrenmorde“. Der Menschenrechtsaktivist Aso Kamal schätzt, dass in der Autonomen Region Kurdistan zwischen 1991 und 2007 mehr als 12 000 Frauen im Namen der Familienehre getötet wurden. Große Sorgen machen sich die NGOs auch wegen der Selbstverbrennungen von Frauen, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr sehen. Da Selbstmordversuche von den Familien oft verheimlicht werden, gibt es keine exakten Zahlen. Die Organisation Asuda weiß von 19 Fällen im Jahr 2014, und das nur in Sulaimaniyya.

Ein weiteres Problem sind die nach wie vor üblichen Kinderheiraten, die sogar zunehmen, insbesondere in den ärmsten Dörfern und innerhalb der Vertriebenengruppen. Diese Familien profitieren von der Verheiratung ihrer jungen Töchter, denen der Zugang zu Schule und Ausbildung oft verwehrt ist. „In einigen Dörfern gibt es keine weiterführende Schule. Den Mädchen bleibt gar nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben und auf einen Ehemann zu warten“, erklärt Khanim Latif, die auch von zahllosen Bescheidungen im Teenageralter berichtet – der NGO Wadi zufolge sind davon 57 Prozent der 14- bis 18-jährigen Mädchen betroffen.

Auf der anderen Seite hat die Regierung der Autonomen Region Kurdistan einige Gesetzesinitiativen ergriffen, mit denen sie sich positiv vom übrigen Irak abhebt. 2011 verabschiedete das kurdische Parlament das „Gesetz 8“ über häusliche Gewalt, das physische oder psychische Gewalt innerhalb der Familien, verfrühte oder erzwungene Heirat, Beschneidung, Vergewaltigung in der Ehe und die Diskriminierung im Bildungssystem als Straftaten anerkennt. Das Gesetz sieht sowohl die Einrichtung eines Sondergerichts für Fälle häuslicher Gewalt vor als auch eine bessere Betreuung der Opfer.

Für Khanim Latif hat das Gesetz eher symbolischen Wert: „Ein Gesetz zu beschließen, ohne konkrete Mittel für seine Durchsetzung bereitzustellen, ist absurd.“ Auch verändern sich die Einstellungen nicht von heute auf morgen. Von den Religions- und Stammesvertretern über die Ärzte, die Polizei und nicht zuletzt die Familien muss eine ganze Gesellschaft überhaupt erst für die Probleme sensibilisiert werden.

Sit-ins gegen Zwangsverheiratung

„Die Freiheit, Soldatin zu werden, war kein Gefallen, den uns die Männer gewährt haben. Wir haben dafür gekämpft.“

Bislang sorgt die Obrigkeit auch nicht immer für die nötige Transparenz und Unabhängigkeit der Justiz. Berichte und Zeugenaussagen zeigen, dass Gewalttäter entweder mit viel zu leichten Strafen davonkommen oder gar nicht erst belangt werden, wenn die Tat durch das Verhalten des Opfers „legitimiert“ wurde. Es kommt sogar vor, dass die Richter einem Vergewaltiger nahelegen, sein Opfer zu heiraten, um die Ehre der Frau wiederherzustellen. Und schließlich mischen sich die nach wie vor einflussreichen Clanführer regelmäßig in die Prozesse ein. Um ihre Leute zu schützen, erkaufen sie sich beispielsweise das Schweigen der Opfer, indem sie deren Familien finanzielle Entschädigungen anbieten.

In den Städten sieht es schon anders aus. Hier machen sich die Fortschritte bereits bemerkbar. Selbstverbrennungen, häusliche Gewalt und die Zahl der Beschneidungen sollen inzwischen rückläufig sein.

Besonders aktiv ist die Gruppe Zhiyan. Über ein Netz von etwa 30 Frauenrechtsorganisationen versucht sie permanent Druck auf die Regierung auszuüben, so etwa im tragischen Fall der jungen Duniya: Die 14-Jährige wurde zweimal verheiratet, von ihrem polygamen Ehemann gefoltert und schließlich umgebracht. Der Mörder, der von seinem Clan geschützt wurde, hatte seine Tat auf YouTube gestanden und seine beschmutzte Ehre ins Feld geführt: Das Mädchen habe einen gleichaltrigen Jungen geliebt.

Zhiyan und andere feministische Gruppen organisierten daraufhin Demos und Sit-ins vor dem Parlament. Sie verlangten die strikte Anwendung des Gesetzes ohne Einmischung der Clans und die Verurteilung aller, die an der Verheiratung des Mädchens beteiligt waren, das heißt ihrer Familienmitglieder sowie des religiösen Würdenträgers, der die Hochzeitszeremonie durchgeführt hat. Duniyas Fall, dessen juristische Aufarbeitung immer noch andauert, macht einerseits das Versagen der Justiz deutlich. Aber er zeigt auch, wie stark und entschlossen Teile der Gesellschaft für die Durchsetzung ihrer Rechte kämpfen.

Das Leben nach der Heirat

Diese Hartnäckigkeit trägt Früchte: Vor 15 Jahren eröffnete Asuda die erste Einrichtung zum Schutz von Frauen, die von Ehrverbrechen bedroht sind. Heute gibt es in allen drei Provinzen der Autonomen Region Kurdistan (Erbil, Dahuk, as-Sulaimaniyya) vergleichbare Einrichtungen. 2007 schuf die Regierung einen Ausschuss im Innenministerium, der Daten und Statistiken zu häuslicher Gewalt sammeln soll. Zwei Jahre später wurde der „Hohe Frauenrat“ ins Leben gerufen, dessen Mitglieder aus der Aktivistinnenszene unter Vorsitz des Ministerpräsidenten eng mit den NGOs und Regierungsinstitutionen zusammenarbeiten. Seither sind 30 Prozent der Sitze im kurdischen Parlament für Frauen reserviert. „Die Situation im irakischen Kurdistan ist viel besser als im Rest des Landes; aber das ist nicht, was wir wollen. Das reicht noch lange nicht“, sagt Khanim Latif.

Rezhin (Name geändert), 22 Jahre alt und Absolventin der Universität Sulaimaniyya, verkörpert dieses unbändige Verlangen nach Unabhängigkeit: „Ich habe keine Lust auf Haus, Kinder und einen Ehemann, für den ich koche. Es ist, als gebe es zwei Leben: eines vor und eines nach der Heirat, mit allen Pflichten, die dazugehören. Und das soll dann Liebe sein? Sich für die Wünsche von jemand anderem abzurackern, ohne dass der was für dich tut?“

Rezhin schimpft auf die patriarchalische Gesellschaft und auf die Frauen, die sie hinnehmen und damit zu deren Fortbestand beitragen. Sie hatte mit ihrer Familie zwar noch nie Probleme, weiß aber, dass nicht alle ihre Einstellung teilen – und ist entsprechend vorsichtig. „Einige enge Freunde haben mir gesagt, dass sie meine Meinung missbilligen, aber ich nehme diese Herausforderung an. Ich will reisen, mich bilden, noch stärker und freier sein. Und ich möchte nach Kurdistan zurückkehren und ihnen zeigen, dass ich mit meiner Einstellung hier auch leben kann.“

Auf die Popsängerin Helly Luv angesprochen, reagiert sie eher skeptisch: „Sie ist im Westen aufgewachsen, für sie war es leichter. Sie musste nicht kämpfen.“ Aus Prinzip weigert sich Rezhin, in Restaurants im Frauen- und Familienbereich zu sitzen. Und sie empört sich darüber, dass eine Dankesformel auf Kurdisch nur die männlichen Familienmitglieder preist. Kurdistan hat viele Kämpferinnen – nicht alle tragen Uniform.

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