Jürgen Gottschlich über den Kampf der Türkei gegen IS und Kurden
: Erdoğans zynisches Kalkül

Ankara nimmt einen Zweifrontenkrieg gegen die PKK und den Islamischen Staat in Kauf

Mit dem Bombardement auf mehrere Lager der kurdischen PKK-Guerilla im Nordirak hat die türkische Regierung den seit knapp drei Jahren andauernden prekären Waffenstillstand mit den Kurden endgültig beendet.

Wirklich überraschend kam das nicht, denn spätestens seit dem Kampf um die an der syrisch-türkischen Grenze gelegenen Stadt Kobani im vergangenen Oktober machte vor allem Staatspräsident Tayyip Erdoğan klar, dass er an einem echten Friedensprozess nicht mehr interessiert ist.

Schon damals sprach er davon, dass er die kurdische Arbeiterpartei PKK mindestens für eine gleich große Gefahr hält wie die islamistischen Schlächter des sogenannten Islamischen Staates (IS). De facto war es sogar so, dass Erdoğan und sein Regierungschef Ahmet Davutoğlu lange den Islamischen Staat indirekt unterstützten – in der Hoffnung, die Islamisten würden die Kurden in Syrien erfolgreich bekämpfen, ohne dabei für die Türkei eine Gefahr dazustellen.

Das hat sich als schwere Fehlkalkulation herausgestellt. Nicht nur der Terroranschlag am vergangenen Montag in Suruç, bei dem 32 junge Leute starben, auch die Dreistigkeit, mit der der IS die Türkei als sein Hinterland nutzte, haben Erdoğan und Davutoğlu klargemacht, dass sie auf dem besten Weg waren, den Südosten des Landes in eine Zone zu verwandeln, die eher dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet ähnelt als einer normalen türkischen Provinz.

Dem soll nun, auch mithilfe der USA, ein Riegel vorgeschoben werden. Die türkische Armee soll mit amerikanischer Luftunterstützung die Grenzregion von Militanten des Islamischen Staates säubern, sowohl auf der türkischen wie auch auf der syrischen Seite.

Doch um diese 180-Grad-Wende ihren Anhängern verkaufen zu können, lautet die neue Formel von Erdoğan und Davutoğlu, man werde gegen jede bewaffnete Formation im Land vorgehen und nirgendwo mehr einen Staat im Staate dulden, nicht in den kurdischen Gebieten der Türkei und nicht entlang der syrischen Grenze.

Damit die syrischen Kurden der PYD nicht von den Angriffen auf den IS profitieren, wird die PKK, der wichtigste Verbündete der PYD, ebenfalls angegriffen. Getreu nach Erdoğans Motto, die einen seien so schlimm wie die anderen. Wie schon im Kampf um Kobani verweigern Erdoğan und Davutoğlu erneut eine auch nur indirekte Zusammenarbeit mit den Kurden gegen die Milizen des IS und ­machen so eine Friedenslösung in­nerhalb der Türkei nahezu unmöglich.

Die türkische Übergangsregierung, immerhin hat Ministerpräsident Davutoğlu seit den Wahlen vom 7. Juni keine Mehrheit mehr im Parlament, nimmt damit einen Zweifrontenkrieg sowohl gegen die PKK als auch gegen den Islamischen Staat in Kauf. Man redet sich ein, mit Razzien im Land sowohl die Terrorzellen des IS ausheben, als auch weitere Racheaktionen der PKK verhindern zu können.

Alle Erfahrung spricht dagegen. Weitere Terroranschläge in der Türkei werden dadurch wahrscheinlicher. Dahinter könnte auch ein zynisches Kalkül stehen: Neuwahlen im Herbst mit dem Ziel, eine Alleinregierung der AKP wiederherzustellen.

Bei den Wahlen am 7. Juni hat die AKP nach 13 Jahren Alleinregierung ihre absolute Mehrheit verloren. Seitdem regiert Davutoğlu nur noch als geschäftsführender Ministerpräsident. Er hatte danach 45 Tage Zeit, eine Mehrheit zu organisieren, sprich eine Koalition zu bilden. Diese Frist endet am 23. August. Kommt keine Regierung zustande, kann der Präsident, also Erdoğan, Neuwahlen anordnen.

Aus Sicht des türkischen Wählers herrscht plötzlich Chaos, seit die AKP ihre Mehrheit verloren hat. Diese Atmosphäre soll dafür sorgen, dass die AKP bei Neuwahlen im Herbst mit der Parole antreten kann, nur eine erneute absolute Mehrheit für Davutoğlu und Erdoğan kann dieses Chaos wieder beseitigen. Jetzt ist die türkische Opposition, vor allem die kurdisch-linke HDP am Zug. Wollen sie nicht untergehen, müssen sie dem Kalkül der Regierung etwas entgegensetzen.

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