taz-Serie Schillerkiez: Der Musiker: "Der Professor" trifft den Kiezton

Nach Neukölln hat Michael Betzner-Brandt nichts gezogen. Bis er den Schillerkiez entdeckte. Für seine alteingesessenen Nachbarn hat der 38-jährige Unidozent jetzt einen Seniorenchor gegründet.

Michael Betzner-Brandt dirigiert einen Seniorenchor

Mit zwei Umhängetaschen bepackt, bugsiert der hoch gewachsene Mann mit dem angegrauten Lockenkopf einen Kinderwagen durch die Tischreihen des Cafés Selig in der Schillerpromenade. Das Café hat den Musiker und Chorleiter Michael Betzner-Brandt vor fünf Jahren in den Schillerkiez gelockt. Ein Vermieter hatte im Internet statt mit Wohnungsbildern mit Fotos des Kirchencafés mit Sonnenterrasse geworben. "Ich war total überrascht, dass es in Neukölln so schöne Ecken gibt, und bin hergezogen", erzählt er.

Inzwischen lebt Betzner-Brandt ein paar Straßen weiter, mit seiner Frau und dem Sohn, einem pausbäckigen Einjährigen, der gerade im Kinderwagen vor sich hin döst. "Die Leute hier sind so schön unaufgeregt. Man muss nicht so oder so sein, um dazuzugehören. Das ist ein schönes Lebensgefühl", sagt der Musiker. Ein bisschen habe er hier das Dorfleben wiedergefunden, das er aus seiner Kindheit in der Eifel kennt. "Man braucht ewig beim Spaziergehen, weil man ständig stehen bleibt, und seitdem das Kind da ist, komme ich auf dem Spielplatz auch mit den türkischen Eltern ins Gespräch", mischt sich seine Frau ein, die den Sohn abholt. Auch geheiratet haben er und seine Frau vor anderthalb Jahren im Kiez, nach dem Besichtigen von Brandenburger Schlössern fiel die Wahl doch auf den Heimatkiez. Es gab einen Fackelumzug durch die Schillerpromende, bei dem Freunde Mendelssohns Hochzeitsmarsch spielten.

Michael Betzner-Brandt hat Musik und Philosophie studiert und kam für ein Aufbaustudium zum Chordirigenten vor zehn Jahren nach Berlin. Jetzt ist er an der Universität der Künste Lehrbeauftragter, der zukünftige Chorleiter im Bereich Rock, Pop und Jazz ausbildet. Im Kiez wird er deshalb von vielen "der Professor" genannt.

Zwischen Flughafen Tempelhof und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Bislang galt das Viertel am Rande des Flugfelds als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Nationen leben hier, mehr als 40 Prozent sind arbeitslos, der Kiez hat die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln.

Doch spätestens seit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem innerstädtischen Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit Anfang Mai ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; es sollen Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.

Droht dem Schillerkiez nun also eine Welle von Aufwertung und Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg bereits erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die seit einiger Zeit ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte schon an ihrem Ende angekommen ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert - oder wird es bei ein paar Townhouses am Parkrand bleiben?

Sicher ist nur eins: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten. Das Projekt läuft seit Mai 2010.

Er leitet Chöre, die auch in der Genezarethkirche des Schillerkiezes auftreten, sogar ein chinesischen Chor hat dort schon gesungen. Zudem schreibt der freiberufliche Musiker Bücher über Singen ohne Noten und begleitet Stummfilme am Klavier - in der für ihn wohl zweitwichtigsten Institution des Kiezes: dem Froschkönig. Der Stummfilme liebende Wirt der "Literatur- und Pianobar" zeigt jeden Mittwoch die alten cineastischen Klassiker, die Betzer-Brandt und andere Pianisten live am Klavier vertonen.

Auch der gerade gegründeter Seniorenchor war eine im Froschkönig geborene "Bier-Idee". Mit seiner Exnachbarin hatte sich der "Professor" über "young@heart" unterhalten - einen Dokumentarfilm über einen Chor für Alte in Massachusetts - und beschlossen, in Neukölln einen ähnlichen Versuch zu wagen. "Ich bin noch nie so offene Türen eingerannt", erzählt Betzner-Brandt. Die Neuköllner Musikschule war sofort interessiert, und es haben sich mehr als vierzig über 60-Jährige angemeldet.

Jetzt ist der Chorleiter auf dem Weg zur zweiten Probe in der Musikschule in der Boddinstraße und muss noch schnell Songtexte für die Probe kopieren. Er jagt den Text von Peter Fox "Haus am See" durch den Kopierer. "Ich weiß gar nicht, ob die Schrift groß genug sind, da sind ja einige älter", sagt er etwas unsicher. Das Projekt reizt ihn, gerade weil es in Neukölln ist: "In Zehlendorf wäre es nicht so spannend. Hier sind Charaktere und Typen dabei, bei denen nicht alles glattgelaufen ist. Da gibt es Brüche im Leben, und das macht auch die Musik authentischer."

Als er in die Schule kommt, stellen zwei ältere Frauen bereits einen Stuhlkreis auf. Betzner-Brandt legt Ben E. King auf und schmettert "Stand by Me" mit. Nach und nach trudeln die Neuköllner ein, die schicke ältere Dame in weißer Bluse aus Britz sitzt neben dem Neuköllner Urgestein in Jogginghose mit der rauchigen Stimme, die Hälfte der vierzig Singbegeisterten wohnt im Schillerkiez. Auf die bunte Mischung ist auch eine Fernsehtalentshow sofort aufmerksam geworden und hat den Chor zum Casting eingeladen. Noch vor den Aufwärmübungen ist die Einladung Thema. "Nur weil Alte gerade hip sind, will ich da nicht vorgeführt werden", sagt eine Frau, und die meisten stimmen ihr zu.

Betzner-Brandt lässt abstimmen, das Thema Talentshow ist vom Tisch, und das Singen kann endlich losgehen. Die Locken des Chorleiters springen, wenn er wild durch die Gruppe läuft, auf die Bühne an den Flügel springt, während die Senioren ihre Stimmen aufwärmen, um danach Songs von Peter Fox und Joe Cocker zu schmettern.

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