Zu Besuch in einer Selbsthilfefahrradwerkstatt in Kreuzberg

Auf alternativen Spuren

Stadtführung Urban Gardening, Umsonstläden, Secondhandgeschäfte, Flohmärkte und verpackungsfreie Supermärkte – junge Leute zeigen jungen Leuten mit einer klimabewussten Stadtführung, wie ein nachhaltiger Lebensstil verwirklicht werden kann

von Nikola Endlich

Lorena Traup macht einen großen Schritt nach vorne. „Weiter gehen kann ich wohl nicht“, sagt sie und lacht. Traup winkelt ihr rechtes Bein an und hält ihren Fuß für einen Moment in der Luft, bevor sie ihn wieder auf den Boden stellt: Jeder ihrer Schritte symbolisiert einen Kilometer der Strecke, die bei einem Ausstoß von einem Kilogramm CO2 zurückgelegt werden kann.

Nimmt man die durchschnittliche Auslastung verschiedener Verkehrsmittel, dann könnte Lorena Traup mit dem Flugzeug gerade mal 3 Kilometer weit fliegen. Mit dem Reisebus dagegen wären es immerhin schon 32 Kilometer.

Die 19-Jährige mit den Jeans­hosen und den Schnürschuhen steht auf dem Spreewaldplatz in Kreuzberg. Sie ist eine von zwölf weiteren SchülerInnen, die an diesem Nachmittag an der klimabewussten Stadtführung „about change“ teilnehmen und einen kleinen Halbkreis unter dem Schatten der Bäume gebildet haben. Organisiert wird dieser Rundgang der kritischen Art von der BUNDjugend Berlin, dem Jugendverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz e. V. (BUND).

Am konkreten Beispiel

Bei der BUNDjugend Berlin kann man sich unter berlin.bundjugend.de für die Stadtführung „about change“ mit Angabe eines Wunschtermins anmelden. Voraussetzung: eine Kleingruppe von mindestens fünf Personen; vierzehn Jahre oder älter. Die BUNDjugend, die die Führungen ehrenamtlich anbietet, freut sich über eine Spende von 2 Euro pro TeilnehmerIn. (ne)

Stadtführerin Meike Ortmanns und Serina Wieser stellen bei „about change“ Orte vor, an denen alternative und nachhaltige Lebensentwürfe verwirklicht worden sind. Die beiden waren oft von langen Diskus­sions­runden frustriert, an deren Ende gar nicht mehr klar war, was eigentlich noch getan werden kann. Deswegen wollen sie an konkreten Projekten aufzeigen, wie sich ein bewusster Lebensstil verwirklichen lässt.

Die meisten Beispiele dafür lassen sich in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg finden. Eine genau festgelegte Route für die Stadtführung „about change“ gibt es aber nicht. Seit dem ersten Rundgang Anfang 2013 wurden immer wieder neue Stationen angelaufen. Zum Beispiel die Prinzessinnengärten in Kreuzberg, Umsonstläden in Friedrichshain oder auch eine Stadt­bi­bliothek in Wilmersdorf als klimafreundlicher Ort.

Heute sind Meike Ortmanns und Serina Wieser mit ihrer Gruppe auf dem Weg durch Kreuzberg. Christoph Hartmann hat gerade die Behälter mit Bohnen, Reis und Hirsesorten neu aufgefüllt, als die Jugendlichen den Lebensmittelladen „Original Unverpackt“ in der Wiener Straße betreten. „Bis ich damit fertig bin, vergeht immer eine Zeit“, erzählt der Verkäufer, der gerade vor einer Kiste voll mit Äpfeln steht.

Die Ware, die er angeliefert bekommt, muss er erst abwiegen, damit er sie dann umfüllen kann. Denn in dem kleinen Lebensmittelgeschäft, in dem er arbeitet, wird anders als in herkömmlichen Supermärkten auf Einwegverpackungen verzichtet. Wer hier einkaufen will, muss sein eigenes Behältnis mitbringen oder in dem Laden ein Glas leihen oder erwerben. Viele der Lebensmittel, die es hier nach Gewicht zu kaufen gibt, sind zudem saisonal oder bio. „Langfristig werden das auch die Nudeln und Reissorten sein“, meint Hartmann – denn das sind bislang einige der wenigen Lebensmitteln des Sortiments, die noch nicht bio sind.

Lorena Traup hält ihre Hand unter einen der Spender, der voll mit Sojabohnen ist. Wie die anderen SchulkameradInnen, die zwischen den Super­markt­regalen hin und her laufen und die unterschiedlichen Trockenfrüchte, Tee- und Marmeladensorten in den Gläsern begutachten, besucht Traup die 12. Klasse der Freien Waldorfschule in Darmstadt.

Wo geht‘s zuerst hin, verpackungsfreier Laden oder Selbsthilfewerkstatt? Eine Darmstädter Schulklasse nimmt an der klimabewussten Stadtführung „about change“ teil Fotos: Christian Mang

In den letzten fünf Jahren hat die Schule auf das Thema Nachhaltigkeit gesetzt. Jede 9. Klasse fährt seitdem auf einen biodynamischen Bauernhof, um dort für zwei Wochen mit anzupacken. Und mit der Klassenstufe 12 wird alljährlich ein Ausflug nach Berlin unternommen, um sich dort mit der Frage auseinanderzusetzen, wie ein klima­freundlicher Lebensstil gestaltet werden kann. „Wir wollen den Jugendlichen dabei nichts dogmatisch vermitteln, aber zumindest eine Alternative zum herkömmlichen Konsumverhalten anbieten“, sagt Lehrer Dieter ­Vogel.

Keine Überzeugungsarbeit

Auch die beiden StadtführerInnen betonen, dass bei ihrem Rundgang keine Überzeugungsarbeit geleistet werde. Die Tour soll vielmehr Angebote und Vorschläge unterbreiten. „In zwei Stunden das Bewusstsein von den jungen Menschen zu ändern können wir ohnehin nicht erwarten“, gibt Meike Ortmanns zu bedenken. „Aber beim nächsten Einkauf wird der ein oder andere vielleicht überlegen, ob er heute mal die Tomaten ohne Plastikverpackung kauft.“

Eine Station der Führung ist das Geschäft „Original Unverpackt“

Stadtführerin Serina Wieser selbst steht mittlerweile lange vor einem Regal und überlegt, welche Produkte sie kaufen möchte. Auch Meike Ortmanns hat letztes Jahr einen Versuch unternommen, ihre eigene Klimalast zu reduzieren. Für vier Monate hat sie dafür alle Kleidungsstücke und Gegenstände, die sie eigentlich benötigte, nicht neu erworben, sondern über Tauschbörsen, Kleinanzeigen, auf Flohmärkten oder in Umsonstläden organisiert. Die 21-Jährige hat darüber auf dem Blog der BUNDjugend Berlin berichtet. Dort posten auch andere junge Menschen Beiträge, um ihre Erfahrungen, die sie beim Ausprobieren von alternativen Lebensentwürfen gemacht haben, mit anderen zu teilen.

Vielleicht wird auf der Seite ja bald ein neuer Erfahrungsbericht eingestellt. Die 19-jährige Lorena Traup überlegt, ob das Konzept eines verpackungsfreien Supermarktes auch bei ihnen zu Hause in Darmstadt Erfolg haben könnte.

Wenn Lorena Traup mit der Schule fertig ist, würde sie gerne in eine größere Stadt ziehen. Schließlich sei es zum Beispiel in Berlin viel einfacher, nachhaltige Projekte aufzubauen, meint sie. Jetzt geht es aber erst mal zurück nach Darmstadt. Den Reiseproviant für die Rückfahrt hat Lorena Traup schon eingekauft: Ein Biobrot vom „Original Unverpackt“-Supermarkt. Das liegt lose in ihrem Rucksack.