Geflüchtete in Berlin: Ein Tag am Lageso

Staatsversagen: Hunderte Berliner sind eingesprungen, um Asylbewerber zu unterstützen – und gehen dabei an ihre Grenzen.

Eine Helferin teilt Wasser aus

Freiwillige übernehmen in Moabit die Grundversorgung der Menschen vor dem Lageso. Foto: dpa

BERLIN taz | Das ist das Irritierendste. Ich bin jetzt Grenzer. Die mit Papieren, darf ich reinlassen. Die ohne muss ich zurückschicken. Das entscheidende Papier ist hier ein Stück Kreppband am T-Shirt, am Kleid, am Hemd. Darauf mit Filzstift der Name. Gerda, Ronja, Ebru, Ebrus Mann, Malte, Maik, Omar, Mustafa.

Alle gehören zur Initiative „Moabit hilft“, die hier auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhauses in Berlin-Moabit Spenden sammelt. Kleider, Essen, Geld. Es wird sortiert und später wieder verteilt. An die anderen. Die Flüchtlinge, die, die ich draußen halten muss, damit es hier nicht zu chaotisch wird.

Die. Sie stehen dahinten. Hinter dem roten Flatterband. Wer es überschreitet, riskiert, angebrüllt zu werden. Von einem der engagierten Helfer. Der eine oder andere Nerv liegt blank. Meist werden sie freundlich gebeten, zurück zu gehen. Keine Einzelfallhilfe, sagte eine der anderen Helferinnen zu mir. Fang da erst gar nicht mit an. Denn es sind viele. Zu viele für uns, für die bestimmt hundert Freiwilligen, die versuchen, das Schlimmste zu lindern.

Das Schlimmste ist auf der anderen Seite – auf der großen Wiese hinter dem Backsteinbau. Dort warten täglich rund tausend Flüchtlinge auf ihre Erstregistrierung beim zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales. Beim Lageso. Sie warten draußen. In langen Schlagen zwischen rot-weißen Polizeigittern. Erst um einmal eine Nummer zu bekommen. Und dann wieder vor dem nächsten Haus, damit ihr Fall, ihr weiteres Schicksal behandelt wird. Das kann in extremen Fällen Tage dauern.

Vier Dixie-Klos

Das Schlimmste sind nicht die tausend Flüchtlinge. Nicht die vielen jungen Männer, nicht die Kinder, die zum Teil hoch schwangeren Frauen. Die Kranken. Die Verletzten. Das Schlimmste ist das komplette Staatsversagen auf dieser Wiese. Da stehen vier Dixie-Klos. Und jetzt auch zwei sehr provisorische Zelte. Für erste Hilfe. Mittlerweile gibt es einen Tisch, an dem Wasser ausgeschenkt wird, ein Brunnen ist im Bau. Aber Versorgung gibt es keine. Jedenfalls nicht von staatlicher Seite.

Dafür von „Moabit hilft“. Seit zwei Wochen stellt die Initiative hier unglaubliches auf die Beine. Es fing an mit einem Facebook-Post von Diana Henniges, die die Initiative schon 2013 gegründet hat. Am Donnerstagmorgen habe ich sie interviewt – als Journalist.

Mittags stehe ich selbst auf dem Gelände – nicht als Journalist, sondern als einer von vielen, die mit anpacken wollen. Diana hat gesagt, wenn du helfen willst, frag Anna, da vorn an dem kleinen Tisch. Anna sagt, wenn du helfen willst, musst du deine Hände desinfizieren und Gummihandschuhe überziehen. So will es das für Hygiene zuständige Amt. Die Berliner Verwaltung schafft es nicht, die Flüchtlinge mit Essen zu versorgen, aber sie hat Zeit Essensspenden zu kontrollieren.

Und was kann ich tun?, frage ich. Keine Angst, du wirst hier schon aufgesogen, antwortet Anna.

Kurze Röcke zum Roten Kreuz

Russisch? Kann hier wer Russisch?, ruft jemand über den Platz. Arabisch? Wer kann Arabisch? Serbokroatisch? Albanisch? Fast für alle Sprachen gibt es unter den Freiwilligen Dolmetscher. Doch was nutzt es, wenn man Farsi kann, aber nicht weiß, wie, ob und wo man ein Flüchtlingskind in der Schule anmelden muss.

Ich kann eh keine der benötigten Sprachen, also geh ich zur Kleidersortierung. Kurze Röcke und Hosen kommen gleich auf den Stapel fürs Rote Kreuz, erklärt mir eine der Eifrigen, weil die Muslimen so was nicht tragen. Aber, sagt eine andere, da sind doch ganz viele auf der Wiese, die ... Nein, sagt die erste, das ist so entschieden.

Kann mal jemand beim Melonen-Schleppen helfen?, schallt es über den Platz. Ich nutze die Gelegenheit und ergreife die nächste Aufgabe. Brot ist alle, sagt Ebru. Ich kaufe im nächsten Supermarkt 20 Fladenbrote. Ist das viel? Oder wenig? Ist das genug?

Was ist gerecht?

Kann mal jemand auspacken helfen? Ein Auto fährt vor, darin hundert Rucksäcke, jeweils mit dem nötigsten gefüllt. Zahnbürsten und Decken, Traubenzucker und Nüsse und so was. Alles mit Spenden finanziert. Alles kommt erstmal ins Lager. Eine Flüchtlingsfrau steht mit großen Augen neben dem Auto. Aber alles kommt erstmal ins Lager. Es soll ja gerecht verteilt werden. 100 Rucksäcke. Was ist da gerecht?

Ich stehe daneben am Kontrolltisch. Aber ich bin ein schlechter Grenzer. Mehrfach huschen kleine Jungs durch. Später kommt eine Deutsche und fragt nach einer Jogginghose für die 16-jährige Syrerin neben ihr, die ohne Familie hier ist. Keine Einzelfallhilfe, erkläre ich, wir kommen zu den Leuten auf die Wiese und dann ...., spule ich die übliche Erklärung ab.

Wir bringen jetzt das Essen. Warmes Essen. Reis, Fleisch, Gemüse in Styroporschachteln abgepackt. Zwölf Stück pro Kiste. Für eine Wiese mit tausend Menschen. Geht immer mindestens zu zweit, sagen die Erfahreneren. Geht aber auch nicht in zu großen Gruppen, dann bildet sich ein Pulk. Und versucht erstmal Frauen und Kindern das Essen zu geben.

Polizei und Krankenwagen

Wir kommen nicht einmal bis zu der Wiese. Schon auf dem Weg um das Backsteingebäude herum stehen die ersten. An der Ecke gibt es kein Weiterkommen mehr. Männer mit flehenden Blicken kommen auf uns zu. Hier und da ein kleiner Junge. Wir wollen das Essen gerecht verteilen. Aber was ist gerecht? Beim zweiten Gang wenig später kommen wir etwas weiter. Auch weil vorneweg ein arabisch sprechender Helfer geht. Aber wir enden in einer Traube hungriger Menschen. Die letzte Schachtel geht im Gezerre zu Bruch, das halbe Essen fällt auf den Boden. Entsetzt schauen sich die Flüchtlinge an. Es ist zum Heulen.

Wenig später rast ein Krankenwagen und ein halbes Dutzend Polizeiautos aufs Gelände. Es soll eine Messerstecherei unter den Flüchtlingen gegeben haben. Eine der Helferinnen hat gesehen, wie jemand zusammenbrach. Sie ist völlig fertig. Der Typ mit dem Bart nimmt sie in den Arm. Später stellt sich heraus, dass der Verletzte offenbar schon Stunden zuvor auf der Straße überfallen wurde. Dass er aber nicht zum Arzt gehen wollte, auch weil er gerade hier auf dem Gelände seine Familie wieder getroffen habe. Zufällig. Nach zwei Jahren.

Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ruft später einer der Engagiertesten. Und bleibt dann doch den ganzen Abend.

Seit zwei Wochen bin ich jetzt hier, erzählt eine der Freiwilligen. Physisch, sagt sie, könnte ich das noch länger aushalten, aber psychisch da komme sie an ihre Grenzen. Zumal sie in den letzten beiden Nächten auch noch syrische Familien mit zu sich nach hause genommen habe, die keinen Schlafplatz hatten.

Notübernachtungen überfüllt

Das ist das Unglaublichste. Es ist Abend, die Wiese vor dem Amt ist nahezu leer, wir haben die letzten Brote verteilt und den Müll eingesammelt. Doch draußen, am Eingang zum Gelände stehen noch rund 150 Menschen, die nicht wissen, wo sie die Nacht verbringen sollen. Anders als an den Vortagen, gibt es nicht einmal einen Shuttlebus zu den Notübernachtungen, weil die eh schon überfüllt seien. Kümmert euch, erzählt eine Frau von „Moabit hilft“, hätten die vom Amt gebeten. Sie wüssten auch nicht mehr weiter.

Viele kleine Kinder sind unter den Wartenden, auch hier zwei hoch schwangere Frauen. Mehrere Familien aus Albanien, eine aus Syrien. Die eine Schwangere muss aufs Klo. Gegenüber im Park gibt es eine Citytoilette. Hat mal jemand eine 50-Cent-Münze?, fragt Francesca. Die Münze ist schnell gefunden, doch das Klo ist besetzt. Drinnen ein Mann mit Stuhlproblemen. Draußen die Schwangere. Ein anderes Klo? Nicht in Sichtweite.

Eine Mitarbeiterin des Lageso taucht auf. Sie ist überrascht. Selbstverständlich hätten sie sich um die Menschen hier gekümmert, versichert sie, aber die Wiese vor dem Amt sei ja leer gewesen, da hätten sie gedacht, die hätten alle schon einen Schlafplatz gefunden.

Wo auch immer. Die jungen Männer schlafen im Park gegenüber. Aber die Familien? Es wird verhandelt. Auch darüber, ob die Schwangere auf einem Stuhl vor dem Pförtnerbüro sitzen darf, oder ein paar Meter weiter rücken muss. Sie muss.

Zu Fuß durch Berlin

Ein Lageso-Mitarbeiter zuckt mit den Schultern. Er tue doch schon, was er kann. Er sei seit 8 Uhr morgens hier. Ginge es nach meinem Chef, sagt er, hätte ich um vier Feierabend machen müssen. Mittlerweile ist es fast 21 Uhr. Was man besser machen könnte? Tja, sagt er, mehr Personal einstellen, viel mehr Personal einstellen. Allerdings, fügt er hinzu, viele wollten diesen Job eh nicht machen.

Dann die gute Nachricht. Es soll Platz für 30 Leute in der Notübernachtung an der Kruppstraße geben. Da steht eine riesige aufblasbare Zelthalle auf einem Fußballplatz. Wie die Flüchtlinge dahin kommen sollen? Zu fuß. Also machen wir uns auf den Weg, leiten den Flüchtlingstreck durch die Berliner Nacht. Wählen 30 von den über 100 Wartenden aus, von denen wir meinen, dass sie es am nötigsten haben. Packen ihre Tasche so weit es geht auf Fahrräder. Bleiben immer wieder stehen, weil die Schwangeren nicht so schnell können. Kommen nach vielleicht 20 Minuten an. Hören, dass die Halle schon voll sein soll. Verhandeln mit diversen Sprachkenntnissen, dass unsere Familien doch rein dürfen. Helfen beim Ausfüllen der unabdingbaren Formulare. Wundern uns, wo jetzt der Ägypter geblieben ist, der mit uns im Treck war, obwohl wir ihn nicht ausgewählt hatten.

Wer genau uns denn geschickt hätte, will einen Mitarbeiterin der Notunterkunft wissen. Ob wir nicht irgendein Papier vom Lageso bekommen haben? Wir haben nur dieses kopierte Blatt mit der Wegbeschreibung. Aber da hat tatsächlich irgendjemand handschriftlich die Zahl 30 drauf gekritzelt und darunter unterschrieben. Die Mitarbeiterin ist erleichtert. Alles ist gut im Behördenland. Es ist 23 Uhr. Diese Menschen sind untergebracht. Für eine Nacht. Was danach kommt? Völlig offen.

Ein Albaner schenkt mir eine Zigarette.

Drei der syrischen Mädchen singen, klatschend, tanzend ein arabisches Kinderlied. Ringelrein. Sie lachen.

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