Neuer Roman von Clemens J. Setz: Lost in Natalie

Wo Wörter mehr als nur Bedeutung haben: Clemens J. Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ist ein Psychothriller mit dramatischem Ende.

Wörter an einer Wand

Nicht jedes Wort hat Bedeutung. Nicht jede Bedeutung ist ein Wort. Foto: photocase / peanut

Anfang Juli, ich steuere das Auto durch Slowenien, und meine Mitreisenden unterhalten sich über die Farben von Zahlen. „Elf ist blau, königsblau!“, könnte ich sagen, nur um mitspielen zu können. Aber die beiden meinen das ja ernst, und eigentlich reicht es mir schon, dass Wörter Bedeutungen haben. Sie müssen nicht auch noch sinnlich erfahrbar sein.

Die Mitreisenden sind Clemens Setz und Kathrin Passig. Draußen 36 Grad, im Wagen 20 Grad, wir fahren zur Postojna-Höhle, 10 Grad, wo man lebende Grottenolme anschauen kann. Grottenolme werden sehr alt, bis zu 100 Jahre, aber niemals ganz erwachsen. Sie sehen mit der Haut und haben einen eigenen Sinn für Magnetismus. Clemens schien sich diesem Tier auf verwandtschaftliche Art verbunden zu fühlen.

Für Natalie, die Protagonistin des Romans „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, habehabhaben Wörter nicht nur Farben. Das Wort „bitterlich“ ist „ein schönes, gefranstes Wort mit Kiemen an den Seiten“. Jede Wahrnehmung löst eine Vorstellung aus: „Sie liebte den Geruch von Sonnenmilch, er war bunt und cocktailartig, und gleichzeitig war etwas Fellwarmes darin, bestimmt roch so der Nacken von Bugs Bunny“.

Mit Kiemen an den Seiten

Natalie ist 21 und tritt ihre erste Stelle als Pflegerin in einem kleinen, privaten Behindertenwohnheim an. Auch wenn sie den letzten „Grand Mal“-Anfall als Kind hatte, ist die Epileptikerin in ständiger Selbstbeobachtung: Wenn sie sich bückt, „streift sie der Tod“? Naht ein Anfall, fühlt sie sich „aurig“? Sie versucht sich durch kleine, ständig neu zu erfindende Rituale im Gleichgewicht zu halten: „Natalie konnte keinen Lichtschalter betätigen, ohne ihn nicht zumindest für ein paar Sekunden genau an der Übergangskante zwischen Strom und Nichtstrom zu balancieren.“

1.000 Seiten Natalie. Radikal personal erzählt. Das Buch ist eine faszinierende Zumutung, es gibt keine Erholung, die Leserin folgt Natalie durch die Windungen ihres Geistes. „Wenn man es schnell liest, geht Natalie einem bestimmt auf die Nerven“, sagt Clemens im Chat. Das Buch sei schon sehr dick.

Geht sie mir auf die Nerven? Eher mache ich mir Sorgen um sie. So anstrengend es ist, Natalie zu folgen – wie anstrengend muss es erst sein, Natalie zu sein? Oder sie zu schreiben. Live-Sendungen im Fernsehen, Chats und nächtliche Anrufe verbinden sie mit der Welt: “… später konnte sie noch verschiedene technische Hotlines anrufen und Probleme erfinden, die sich mittendrin in Luft auflösen. Sich wiederholt bei jemandem bedanken, der dadurch glücklicher und glücklicher wurde.“

Seit der Trennung von Autor Markus, der ihr mit einer Erzählung zu nahe trat, streunt sie nachts herum, bietet Fremden Feuer und Blowjobs an: „Seit Markus ließ sie niemanden mehr in ihren Körper, außer in ihren Mund.“ Diese anonymen Blowjobs sind für sie „Als würde man die Ausgezeichnet!-Geste von Mr. Burns von den Simpsons besonders lange machen und die Fingerkuppen werden dabei auf diese spezielle Weise … nicht taub, sondern vergesslich, das war das richtige Wort, ja, vergesslich, sie bewegten sich irgendwie von allein weiter, und es fühlte sich an, als hätte man eine unsichtbare Glasscheibe zwischen den Fingern. Und hier war es genau dasselbe Prinzip, nur eben mit Lippen.“

Sprache von lähmender Korrektheit

Mit Markus hält sie Kontakt. Er antwortet, wenn sie ihn braucht, im Chat oder am Telefon. Man könnte sagen: Sie nutzt ihn aus. Im Betreuerinnenteam des Pflegeheims findet sie eine Gemeinschaft, die sie erträgt. Durchritualisiert in Dienstplänen, Teamsitzungen, Supervision, mit einer Sprache von lähmender Korrektheit, in der sogar das Wort „Patient“ verpönt ist, konterkariert durch unkorrekten Humor, wenn Frauen sich untereinander auf dem iPhone Bilderstrecken wie „Progeria kids that look like Hitler“ zeigen.

Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Suhrkamp, Berlin 2015. 1.021 Seiten, 29,95 Euro

Ein System, in dem sich Natalie geborgen fühlt, auch wenn Kolleginnen Narben tragen: „Eigentlich könnte ich mir auch solche Schnitte verpassen, dachte Natalie und betrachtete ihren hellen, dünnen Arm. Jetzt, wo ich jemanden kenne, der mir helfen kann, da wieder rauszukommen. Selbstverletzung mit Supervision.“ Natalie fühlt sich geborgen ähnlich wie in der Sekte, bei der sie ein paar Monate gelebt hat, und die ihr Verschwörungstheorien verabreichte. Chemtrails, Morgellonen, Crowd-Control-Substanzen im Trinkwasser – daran glaubt sie, ohne dass es ihren Alltag sehr beeinträchtigen würde.

Natalie wird als Betreuerin Alexander Dorm zugeteilt, einem 30-jährigen Rollstuhlfahrer, der nur von einem einzigen Menschen Besuch erhält: Christopher Hollberg, dessen Frau er als Stalker in den Selbstmord getrieben haben soll. „Ein Arrangement“, doch welche Rolle soll Natalie darin spielen? Sie scheint die Erste zu sein, die das „Arrangement“ infrage stellt. Wer Täter, wer Opfer, wer Verfolger oder Verfolgter ist, changiert im Laufe des Buchs. Ein Psychothriller mit dramatischem Ende.

„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ist ein Buch über die Wirkung von Sprache: Der richtige Satz zur richtigen Zeit kann erlösen oder vernichten. Ein schwedischer Abzählreim kann einen Menschen vor dem Wahnsinn oder dem nächsten Anfall retten. Eine einzige kurze Geschichte kann eine Beziehung zerstören oder den ganzen Menschen.

Fotze. Ficken. Spasti

Kinder haben oft den Drang, die Wirkung von Ausdrücken zu erproben: Fotze. Ficken. Spasti. Sie wissen nicht, was die Worte heißen, genießen einfach die Reaktion der Erwachsenen und werten sie empirisch aus. Clemens Setz hat etwas von so einem Kind, das die Grenzen der Sprache austestet. Kann ich mit Sprache eine Wirkung erzielen, Erregung, Übelkeit, Angst, Kopfkribbeln – oder dass der andere nie mehr eine Banane vom Stiel her öffnen wird?

Mit „Babyficken“ löste der Schweizer Urs Allemann 1991 beim Bachmannpreis einen Skandal aus. Es war ein spielerischer, abstrakter Text, der einen Juror so abstieß, dass er den Raum verließ. Der Text gewann den Preis des Landes Kärnten. Die Wirkung von Worten ist auch eine Frage der inneren Filter, der Abstraktionsfähigkeit der Leser.

Clemens Setz spielt nicht nur. Er öffnet uns das Gehirn an den schmerzempfindlichen Stellen, die wir durch Verdrängung, Erziehung und andere Filter in Schach halten: Gewaltfantasien, Rachegelüste, Ungerechtigkeit. Die flüchtigen Assoziationen, die das Gehirn wegen Absurdität sofort verwirft, nimmt Setz in die Hand, päppelt sie auf und macht sie zu Poesie oder zu Ritualen des Wahnsinns.

Eine symbiotische Figur

„Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz“, schreibt der Verlag im Werbetext. Die strikte Trennung zwischen Autor und Figur – aufgehoben? Eine seltsame Botschaft, kauft man Romane, um etwas über den Autor zu erfahren oder über die Figuren? „Schließlich war alles, was in Natalies Kopf vorgeht, vorher in deinem“, schreibe ich Clemens im Chat. „Ja, das stimmt. Aber ohne sie wäre es mir nicht eingefallen. Es ist eine Symbiose.“

Er spricht zärtlich über seine Figur. Es scheint ihm leid zu tun, dass er sie nicht retten konnte. Als Natalie eine Nacht mit Maria verbringt, verschwinden alle Bilder. Es ist die Szene, in der die Wörter kein Eigenleben führen. Entfesselte Lust, die das Denken für einen Moment zum Ruhen bringt. Ein Hoffnungsschimmer. Aber Natalie kann da nicht bleiben, sie muss Leben retten.

Im Kopf von Clemens Setz muss es Millionen gleichgroßer Fächer geben. Dort legt er – jederzeit griffbereit – ab, was er im Netz findet, aufschnappt, sieht, hört, assoziiert. Hörspielkassetten von Alf, Zwölftonmusik, Verschwörungstheorien. Das Wort für das Fall-Gefühl, das man manchmal beim Einschlafen hat. Und die traurigste Geschichte der Welt, die von einem besorgten Affen aus einem Versuchslabor handelt.

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