Die Kamera gibt den Menschen Halt

Kino Der portugiesische Regisseur Pedro Costa macht Filme, für die man Geduld braucht. Seine Serie über das Lissaboner Armenviertel Fontainhas ist jetzt im Berliner Arsenal-Kino in einer Retrospektive zu sehen

Den Figuren ihre Würde lassen: Szene aus „No Quarto da Vanda“ von Pedro Costa Foto: Arsenal Institut

von Ekkehard Knörer

Im Abspann von „Ossos“ (1997) sind die Namen der Darstellerinnen und Darsteller mehr als doppelt so groß geschrieben wie die Namen der von ihnen gespielten Figuren. Vanda Duarte liest man da und viel kleiner darunter Clotilde.

Das ist kein Zufall. „Ossos“ ist ein Spielfilm, dessen fiktionaler Anteil gering ist; der dokumentarische Anteil ist groß. Unter dem Abspann, der Tafel für Tafel die Namen in weißer Schrift auf schwarzem Bild zeigt, hört man als Epilog und Geräuschfilm die nun keiner Figur und keiner Geschichte mehr zugeordneten Originaltonaufnahmen des Ortes, an dem der Film spielt: Fontainhas, ein Armenviertel in den Außenbezirken von Lissabon, in dem vor allem Migranten von den Kapverden leben. Nach diesem Viertel, dessen Abbruch man im zweiten Film, „No quarto da Vanda“ (2000), erlebt, ist die Serie von vier Filmen benannt, denen sich der Ruhm des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa verdankt.

Sehr großer Ruhm

Dieser Ruhm ist in kleinen Kreisen sehr groß. Costa erhält Preise, in Locarno zuletzt, er bekommt Retrospektiven, wie jetzt in Berlin. Die drei Filme vor dem neuesten, dem nun auch in Deutschland anlaufenden „Cavalo Dinheiro“ (2014), sind in einer aufwendigen Edition der Criterion Collection erschienen und damit kanonisiert. Es gibt Gründe für diesen sehr großen Ruhm, aber auch dafür, dass das Publikum der Filme sehr überschaubar und sehr cinephil ist.

Letzteres liegt sicher auch daran, dass Costa so manches verweigert, das viele vom Kino erwarten: Tempo, Bewegung, Narration, klare zeitliche Abfolgen, klare psychologische Motivationen. Das alles gibt es in „Ossos“ schon kaum, obwohl das nominell noch ein Spielfilm ist. In „No quarto da Vanda“, „Juventude em marcha“ (2006) und „Cavalo Dinheiro“ ziehen sich die letzten Spuren solcher Konvention aus dem Inneren der Bilder zurück.

Nichts an dieser Verweigerung, diesem Rückzug ist leichtfertig, Pedro Costa ist der am wenigsten leichtfertige Regisseur dieser Welt. Vielmehr lässt er sich ein. Auf Räume, Orte, Menschen, ihre Geschichten. Er wartet, was sich ergibt an Beziehungen, er hat die Geduld abzuwarten, um herauszufinden, was stimmt, was die richtigen Bilder, die richtigen Einstellungen sind für das, was er sieht, was er beobachtet, für eine Welt, deren Teil er wird, die er als Eindringling von außen erlebt, deren Bewohnern er zum Freund wird oder zum Nächsten als Fremder.

Für einen früheren Film, „Casa de lava“ (1994), ging Costa auf die Kapverden, und weil Menschen dort, die zu Freunden wurden, ihn baten, ihren ausgewanderten Verwandten in Portugal etwas zu überbringen, gelangte er überhaupt nur ins Armenviertel Fontainhas. Und blieb. Ein Jahr war er für „No quarto da Vanda“ vor Ort, mit winzigem Team, und hat den Abriss der Gebäude, den die Bewohner teils selbst vollzogen, erlebt und gefilmt. Er ließ sich ein auf Vanda Duarte, die Clotilde aus „Ossos“. Sie steht in „No quarto da Vanda“ nicht nur im Titel, sondern im Zentrum. Der Rollenname ist, wie überflüssige Schlacke, von ihrem richtigen Namen entfernt.

Costas Filme sind langsam, auch lang, sie fordern ein wenig von der Geduld, die sie selbst haben, sie fordern, dass man sich wie Costa selbst einlässt auf die Welt und die Figuren darin, die Welt von Fontainhas, die Armen, die Drogensüchtigen, die Kranken mit ihren Themen, Sehnsüchten, Bitterkeiten, auf die Gespräche über die Drogen, den Knast, und sie fordern, dass man sich einlässt nicht zuletzt auf die Räume und die Geräusche und auch auf das Schweigen.

In der ersten Einstellung sitzt Vanda auf dem Bett vor lindgrüner Wand, mit einer Freundin, sie reden wenig, Vanda hustet fürchterlich, sie rauchen Crack. Ähnliche Szenen sieht man wieder und wieder, meist drinnen, ein Sitzen, ein Kommen und Gehen, provisorische Leben, die angesichts des bevorstehenden Abrisses ihres Lebensraums nur umso provisorischer sind.

Sechs Jahre später sehen wir Vanda wieder, im nächsten Film, „Juventude em marcha“. Das Viertel ist abgerissen, seine Bewohner sind umgesiedelt in Sozialwohnungsbauten. Aber nicht Vanda steht im Zentrum des Films, sondern Ventura, ein Mann von den Kapverden, der in den Sechzigern als Arbeiter das berühmte Museum Gulbenkian mit aufgebaut hat. Ventura und die anderen spielen sich selbst und sagen eigene Texte auf. Wieder und wieder liest Ventura den Text eines uralten Liebesbriefs, den er einst schrieb, an Clotilde, die Frau, die ihn später verließ.

Diesem Ventura folgt Costa auch im neuesten Film, „Cavalo Dinheiro“, einer Phantasmagorie, die in einem verlassenen Krankenhaus spielt, ein wie geträumter Film, in dem Vergangenheit und Gegenwart gleich anwesend sind. Wieder ist die zeitliche Lücke zwischen den Filmen sehr lang. Eigentlich sollte die Musik von Gil Scott-Heron den neuen Film prägen, es gab recht weit gediehene Pläne, da starb Scott-Heron und Costa musste noch einmal neu anfangen mit dem Projekt.

Pedro Costa filmt nicht mit erpresse­rischer Empathie. Vielmehr filmt er sehr kunstvoll

Einzigartig in Szene gesetzt

Musik, die Costa nie leichtfertig einsetzt, weil er eben nichts leichtfertig tut, spielt dennoch eine Rolle im Film. Ventura singt, ein Zwiegesang mit einem Freund, ein Lied von den Kapverden, Selbstausdruck eines Mannes, der in diesem Film in mancher Hinsicht immer auch ein Fremdkörper bleibt.

Das Eigentliche an Costas Filmen sind nicht die Figuren, nicht die Sujets, nicht per se jedenfalls, das Einzigartige ist, wie sie in Szene gesetzt sind. Es mögen Menschen sein, die in elenden Umständen leben, aber sie sind nicht in den vertrauten realistischen Registern des Elends gefilmt: nicht als Kitchen-Sink-Exploitation, nicht mit erpresserischer Empathie. Vielmehr filmt Costa sehr kunstvoll. Es ist, als forderte sein Eindringen in diese Welt, die nicht seine ist und nicht seine werden kann, eine fast gewalttätige künstlerische Eindringlichkeit. Die Bilder sind trotz Digitalvideotechnik geradezu altmeisterlich komponiert, mit klarem Bezug auf den Anmutungsraum klassischer Interieurmalerei.

An den Beginn von „Cavalo Dinheiro“ stellt Costa dann Fotografien aus New Yorker Obdachlosenunterkünften, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Dem Tableau, dem Tafelbild, der Fotografie bleiben Costas Bilder verwandt, im Halbnahen, in Licht und Dunkel, in Großaufnahmen; und doch entsteht nie der Eindruck, die Kunst sei um der Kunst willen da. Sie ist da um der Menschen willen, ihres Lebens, ihrer Gesichter, ihrer Worte, ihrer Träume, ihrer Bewegungen, ihrer Erinnerungen. Die Kamera bleibt dabei fast immer unbewegt, aber nicht weil sie ungerührt wäre, sondern weil sie den Menschen und ihren Geschichten Halt gibt und Rahmen.

Es ist diese Schönheit der Bilder, und diese Bilder sind oft umwerfend schön, eine Schönheit, die das Elend nicht ästhetisiert. Der Vorwurf liegt nahe, aber er verfehlt Costas Filme. Es geht ihm darum, von solchen Menschen in solchen Umständen solche Bilder zu machen. Bilder, die das Elend nicht leugnen, Bilder, in denen diese Menschen Fremdkörper bleiben dürfen, worin aber gerade ihre Würde und die Würde ihrer Darstellung liegt.

Pedro Costa: Arsenal-Kino Berlin, 24.–27. September