Argentinische Autorin über das Nationale: „Eine Art launisches Archiv“

María Sonia Cristoff greift in ihrem neuen Roman „Lasst mich da raus“ die Idee des Nationalen an und erzählt, wozu Provinz gut sein kann.

Die Schriftstellerin

„Der Markt verlangt nach bestimmten Etiketten“, sagt Maria Sonia Cristoff. Foto: Gabirel Diaz

María Sonia Cristoff, in Patagonien geborene Autorin, hat bereits in ihren 2010 erschienenen Chroniken „Patagonische Gespenster“ über Menschen geschrieben, die in der abgelegenen argentinischen Provinz leben. Auch in ihrem kürzlich erschienenen Roman „Lasst mich da raus“ (“Inclúyanme afuera“) kehrt Protagonistin Mara der Großstadt den Rücken, um in einem Provinzmuseum in der Pampa als Aufsicht zu arbeiten.

taz: Frau Cristoff, Sie beschäftigen sich immer wieder mit abgelegenen Orten und der Provinz – was fasziniert Sie daran?

María Sonia Cristoff: Orte interessieren mich beim Schreiben besonders als Fragestellung – nicht als Landschaft. Es ist das Erste, was mir in den Sinn kommt. Im Fall von „Lasst mich da raus“ flieht die Protagonistin des Romans nicht vor der Welt, sondern vor bestimmten gesellschaftlichen Praktiken. Deshalb wollte ich vor allem einen Ort, an dem sie sich anders verhalten kann. Obwohl Luján nur eine Stunde von Buenos Aires entfernt liegt, scheint die Stadt absolut ländlich und ruhig.

Sie sind selbst in Patagonien geboren. Wie war es, dort in den siebziger Jahren aufzuwachsen?

María Sonia Cristoff über ihren Schreibimpuls

„Was ist das, was wir Leben nennen, und was sind die Systeme der Manipulation, denen wir ausgesetzt sind?“

Etwas weniger abgelegen als ich es in „Patagonische Gespenster“ beschreibe, wuchs ich in Trelew, einer 100.000-Einwohner-Stadt in Patagonien auf. Während viele Menschen mit dem Beginn der argentinischen Diktatur, die von 1976 bis 1983 währte, ins Ausland flüchteten, zogen sich andere in eine Art innerer Emigration in die Provinzen zurück. Sehr viele gingen damals nach Patagonien, um sich dort im eigenen Land zu verstecken. Zahlreiche meiner Freunde waren die Kinder dieser Leute. Schon sehr jung habe ich deren Situation, aber auch das städtische Leben, das sie in Buenos Aires hinter sich gelassen hatten, mitbekommen. Es waren politisch engagierte Menschen. Sie spielten Jazz und taten eine Menge Dinge, die es in Patagonien noch nicht gab. Dieser Anflug von Urbanität hat sich damals in meinem Kopf festsetzt.

In „Lasst mich da raus“ unterbrechen oft „Aufzeichnungen aus dem Notizbuch“ die Erzählung über Maras „Genügsamkeitsprojekt“ in der Provinz. Durch diese kurios anmutenden Einschübe erzählt das Buch von anderen Büchern, von Personen und Anekdoten der Geschichte. Welche Absicht verfolgen Sie mit der Mischung von fiktiver Erzählung und faktischer Darstellung?

Beim Schreiben interessiere ich mich für den Prozess des Schreibens. Es macht mich neugierig, zu erkunden, was ist das, was wir Literatur nennen. Das ist für mich eine zentrale Frage. Deshalb sind meine nichtfiktionalen Texte auch fiktional und umgekehrt. Ich schreibe so, dass die fiktionalen Abhandlungen auf die nichtfiktionalen stoßen – um zu sehen, was passiert. Diese „Aufzeichnungen aus dem Notizheft“ sind aus dem Material entstanden, das ich zusammengetragen habe, während ich am Roman arbeitete – aus einem Film, einem Lied, einer Zeitung oder einem Buch.

Also in gewisser Weise autobiografisch?

María Sonia Cristoff: „Lasst mich da raus“. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2015, 160 Seiten, gebunden, 20 Euro

Das Heft ist vielleicht der autobiografischste Teil des Romans, denn diese Aufzeichnungen sind Notizen von mir als Autorin. Sie sollen die Bedeutung der Erzählung erweitern. Erstaunlicherweise verstehen die meisten Leser diese Abschnitte als Anmerkungen der Protagonistin des Romans. Ich finde es interessant, zu sehen, was passiert, wenn man unterschiedliche Textgattungen aufeinandertreffen lässt. Gleichzeitig unterbricht dieses Vorgehen den Fluss der Erzählung und macht den Prozess des Schreibens transparent.

Sie berichten zum Beispiel vom Museumsgründer Enrique Udaondo, der Flugpionierin Carola Lorenzini oder dem Pferdezüchter Dr. Emilio Solanet – kaum bekannte Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe der Geschichte. Wie sind Sie auf diese Menschen gestoßen?

Die großen historischen Figuren erscheinen mir fast immer redundant. Ich nehme mir sehr viel Zeit, um ein Buch zu schreiben. Sobald ich mit einem Buch begonnen habe, entwickle ich eine Art Radar. Wenn ich dann zwischendurch irgendwo einen Kaffee trinke und in einer Zeitung blättere, entdecke ich oft etwas, das mit dem Roman zu tun haben könnte. Aus diesen Zufällen entsteht eine Art launisches Archiv. Einmal unterhielt ich mich mit einem Wissenschaftler über die Figur des Tierpräparators im Roman. Da erzählte er von einem französischen Anatomen namens Honoré Fragonard. Das Museum von Luján allerdings ist in Argentinien sehr bekannt – auch für seine eher patriotisch reaktionäre Interpretation der argentinischen Geschichte.

Zwei Pferde – Gato (Katze) und Mancha (Fleck) – spielen in dem Roman eine Schlüsselrolle. In einem spektakulären Ritt legte der Schweizer Lehrer und Abenteurer Aimé Tschiffely 1925 mit den beiden Criollopferden und wie ein Gaucho ausgestattet den Weg von Buenos Aires nach Washington zurück. Ausgestopft wurden Gato und Mancha später im Museum von Luján ausgestellt – genau dort, wo im Roman Ihre Protagonistin Mara arbeitet. Für was stehen diese beiden Pferde in der argentinischen Geschichte?

Für die argentinische Kultur sind Gato und Mancha emblematische Figuren. Damals dachte man in Argentinien, dass nur europäische Pferde für sportliche Aktivitäten geeignet wären. Die argentinischen Criollos, die als sehr zäh und ausdauernd gelten, schienen besonders für Aufgaben in der Pampa zu gebrauchen zu sein. Emilio Solanet, Criollo-Züchter, Aktionär der konservativen Tageszeitung La Nation und Mitglied der argentinischen Bourgeoisie, dachte sich: Wenn ich es schaffe, diese Pferderasse durch einen symbolischen Akt aufzuwerten, erweise ich Argentinien einen großen Dienst. Das war natürlich eine Denkweise des 20. Jahrhunderts, aber auch eine Geschäftsidee. Tschiffely, einem ausgewanderten Schweizer Lehrer und Abenteurer, öffneten sich in Argentinien schnell alle Türen: Er lernte dort Emilio Solanet kennen, der ihm die symbolträchtige Reise mit den beiden Criollos vorschlug.

Wie verarbeiten Sie dies in Ihrem Roman?

Da ist es auch eine Art, sich über die ganze Inszenierung der Geschichte lustig zu machen. Eine Sache, die Mara oder der ganze Roman attackiert, ist die Idee des Nationalen. Es ist ein Roman gegen jede Form der Klassifikation und Manipulation. Vaterland und Nation gehören zu den argentinischen Erzählungen, die immer wieder auftauchen. Das zu diskutieren interessiert mich.

„Gegen den Strich“, der Romantitel des Kultbuches des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans, wird für Mara zum Motto ihres nonkonformistischen Handelns. Gegen wen und gegen was richtet sie sich?

Ihr Vorgehen richtet sich vor allem gegen die aktuellen Zustände – im politischen, aber nicht parteipolitischen Sinne –, gegen eine angeblich erstrebenswerte Form von Leben. Was ist das, was wir Leben nennen, und was sind die Systeme der Manipulation, denen wir ausgesetzt sind? All diese Formen ökonomischer, politischer, aber auch sprachlicher oder emotionaler Beeinflussung sind im Roman sehr präsent.

„Lasst mich da raus“ ist Ihr zweiter Roman. Bekannt geworden sind Sie besonders durch die sogenannten „Cronicas“ – ein lateinamerikanisches Format der literarischen Reportage. Warum haben Sie das Format gewechselt?

Für mich gehört das, was ich schreibe, zum gleichen Genre, auch wenn der Markt nach bestimmten Etiketten verlangt. In den Chroniken, die in dem Band „Patagonische Gespenster“ erschienen sind, wird deutlicher, dass es eine aus der Ich-Perspektive erzählende Person gibt, die die aufgegebenen Orte in Patagonien aufsucht. Aber es handelt sich immer um Narrative, die mal mehr, mal weniger fiktionale und nichtfiktionale Elemente vermischen. Von den üblichen „Cronicas“, die in den lateinamerikanischen Zeitungen erscheinen und ausschließlich von Gewalt und Ausgrenzung handeln, bin ich gesättigt. Ich bevorzuge subtilere Formen der Nichtfiktion.

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