Erntehelfer in Apulien: Die Sklaven der Tomaten

Viele Migranten schuften im Sommer auf den Obst- und Gemüseplantagen in Süditalien. Ihr Stundenlohn beträgt oft nur 2,50 Euro.

Erntehefler in Apulien auf einem Fahrrad

Unterwegs zwischen den Feldern: Bis zu 250.000 Menschen schuften als Erntehefler in Apulien. Foto: Antonio Fortarezza

RIGNANO/ FOGGIA taz | Blut läuft die Hand von Aboubacar herunter, und der junge Nigerianer stößt wüste Beschimpfungen aus, die der Besitzerin der Bar gelten. Rose hat ihm so kräftig in den Zeigefinger gebissen, dass ein Stück der Spitze fehlt. Es braucht drei Leute und eine Stunde, um Aboubacar zu beruhigen. Rose, die auch das anliegende Bordell betreibt, stammt wie er aus Nigeria. Sie ist eine sehr dunkelhäutige Frau von Mitte dreißig, die selten lächelt und sich von niemandem einschüchtern lässt. Nicht von ihrem Ehemann, der sie und den sie öfter mal ohrfeigt, und noch viel weniger von ihren Kunden.

Heute Abend ist Rose auf Aboubacar losgegangen, weil sie wollte, dass er die Rechnung seiner beiden Freunde begleicht: 5 Euro. Er war dummerweise angetrunken sitzen geblieben, während sich die zwei verdrückt hatten. Im Ghetto von Rignano, einem Slum etwa zwölf Kilometer südlich von Foggia, sind solche Gewaltszenen alltäglich. Jeder hier weiß, dass es zwei Stunden harte Arbeit ist, 600 Kilogramm Tomaten zu ernten und die kostbaren 5 Euro zu verdienen.

Etwa 1.500 Menschen leben in Rignano während der Erntezeit, die von Juni bis September geht. 50 Prozent aller italienischen Tomaten wachsen hier in der nördlichsten Provinz der Region Apulien. Kleine Ortschaften und riesige Anbauflächen prägen die leicht hügelige Landschaft: Oliven, Spargel, Artischocken, Brokkoli, Erdbeeren, Zitronen gedeihen hier.

Die profitabelste Saison

Die meisten Bewohner von Rignano stammen aus Mali, gefolgt von Kamerun, Ghana, Senegal. Sie verdingen sich auf den Obst- und Gemüseplantagen für absolute Niedriglöhne; neuerdings kommen auch immer mehr Afrikaner aus anderen Landesteilen Italiens nach Rignano, weil sie einfach ein paar Tage im „Afrika Apuliens“ verbringen wollen.

Manche halten nur einen Tag bei der Ernte durch, andere eine Woche.

Im Ghetto gibt es Läden, kleine Restaurants, eine Moschee und eine Radiostation. In manchen Häusern sind in einem Raum mehr als 40 Menschen untergebracht, Matratze an Matratze. Ein paar Duschen stehen im Ghetto zur Verfügung, die Felder werden als Toilette genutzt. Fast jeden Morgen kommt ein Laster der Regionalverwaltung und füllt einige Wassertanks. Regionalpräsident Michele Emiliano hat versprochen, diesen afrikanischen „Schandfleck“ bis Ende Oktober zu beseitigen, doch das nimmt ihm hier niemand ab. Die Tomatenernte ist eine der profitabelsten Jahreszeiten für die Region.

„Dieses Jahr Arbeit zu finden ist sehr schwer, wallahi, ich schwör’s“, sagt Abdullah, 28, der ursprünglich aus Conakry in Guinea stammt und seit fünf Jahren legal in Italien lebt. „Immer mehr Leute wollen hier arbeiten, und es hat keinmal geregnet!“ Der Regen bestimmt ganz wesentlich die Ernte. Hat es geregnet, kann der Farmer seine Maschinen wegen des matschigen Bodens nicht voll einsetzen und muss mehr Arbeiter anheuern. In trockenen Sommern erledigen 5 Arbeiter und eine Maschine den gleichen Job wie andernfalls 30 Arbeiter ohne mechanische Hilfe. Der Sommer 2015 war extrem heiß. So heiß, dass in weniger als einem Monat sechs Arbeiter gestorben sind: drei Afrikaner, ein Rumäne und zwei Italiener.

Nicht alle sind für diese Art Arbeit geschaffen. Egal von welcher Statur, solche Strapazen steht nur durch, wer an ein Leben auf den Feldern unter der afrikanischen Sonne gewohnt ist, wie schon seine Eltern und Großeltern. Manche halten nur einen Tag bei der Ernte durch, andere eine Woche. Wer eine ganze Saison schafft, der hat das zweifelsohne sein ganzes Leben gemacht. Der beste Arbeiter scheint ein Ghanaer, den alle „38 cassoni“ rufen, weil er an einem Tag 38 Kisten, je 300 Kilogramm schwer, mit Tomaten bestückt. Das ist Rekord; die anderen Afrikaner schaffen in der Regel 10 Kisten.

Charles ist Vorarbeiter und einer der Bosse im Ghetto. Seit acht Jahren lebt der Ghanaer in Italien, er hält den Kontakt zum Eigentümer der Tomatenfelder bei Lucera, östlich von Foggia. Charles besitzt nicht nur eine Bar und ein paar Baracken in Rignano, sondern auch ein Haus zwischen den Feldern, in dem er 20 Arbeiter schlafen lässt. „Willst du auf dem Feld arbeiten?“, fragt er Karim, einen jungen Gambier, der gerade in seine Bar kommt. „Kommt nicht in Frage“, sagt Charles dann, ohne die Antwort abzuwarten. „Ich gebe dir einen einfacheren Job, bei den Maschinen.“ Auch wenn er die 30 Euro genommen hat, die ihm der junge Mann zugesteckt hat – soviel kostet die Matratze für eine Saison –, weigert sich Charles zu glauben, dass Karim eine gute Investition ist.

„Im Ghetto gibt es viele Vorarbeiter, carporali oder capineri“, erklärt Concetta Notarangelo von der Hilfsorganisation Caritas in Foggia, „Afrikaner, die gut Italienisch sprechen und den Transport der Arbeiter zwischen dem Ghetto und den Feldern organisieren“. Inzwischen gebe es auch, sagt Notarangelo, immer mehr Italiener, die ihre Arbeiter direkt aus dem Ghetto holen und aufs Feld bringen. „Die illegale Beschäftigung nimmt zu.“

Konkurrenz auf allen Ebenen

Auch die Farmer sind einem harten Wettbewerb ausgesetzt, weil sie auf den Großmärkten oft nur niedrige Preise erzielen. 24.000 landwirtschaftliche Betriebe gibt es in Apulien. „Natürlich ist es nicht korrekt, einem Arbeiter nur 2,50 Euro pro Stunde zu zahlen“, sagt ein Händler, der anonym bleiben will. „Aber es ist ebenso unanständig, dass die Multis unsere Preise unterbieten und uns in den Ruin treiben.“ Die Produktionskette oder filiera, die auf den Feldern beginnt und das Produkt bis in die Supermarktregale bringt, ist gnadenlos profitorientiert. Aus diesem Grund verspricht jemand wie Charles seinem neuen Arbeiter nicht mehr als 3 Euro für 300 Kilo; das sind immerhin 50 Cent mehr, als mancher Senegalese oder Malier im Ghetto seinen Landsleuten anbietet.

Bereits um halb vier am frühen Morgen sind die Lastwagen voll mit arbeitswilligen Männern. Draußen warten noch Hunderte darauf, Kanister und Sandwich in der Hand, aufgerufen zu werden. Vier Stunden lang werden die Laster einer nach dem anderen aufbrechen. Der afrikanische Teamchef, manchmal in Begleitung eines Italieners, ruft die Arbeiter einzeln auf. Im Schein einer Taschenlampe gleicht er die Liste mit den Namen der Arbeiter mit den Ausweispapieren ab, die sich in einer Plastiktasche befinden. Nicht jeder hat eine Aufenthaltsgenehmigung, weshalb die Arbeiter oft ihre Papiere untereinander tauschen.

Die Arbeit geht von 4 Uhr morgens bis 12 am Mittag und dann nochmal von 14 bis 18 Uhr. Aber viele gönnen sich keine Pause. Tomaten sind eine empfindliche Ware. Wegen der Hitze ist die Ernte schlecht ausgefallen diesen Sommer – bis zu 60 Prozent weniger Tomaten als im Vorjahr, schätzen lokale Zeitungen. Auch deswegen werden weniger Arbeiter gebraucht. Rund 250.000 Menschen schuften als Erntehelfer in Apulien; etwa 60.000 bis 80.000 davon illegal. Die genauen Zahlen sind schwer zu ermitteln.

Jeden Morgen um 7 Uhr lässt Sidibé sein Auto an. Obwohl erst 22, hat der Malier schon die Durchquerung der Sahara, den Ausbruch des Bürgerkriegs in Libyen und die letzten vier Jahre in Italien überlebt. Er besitzt eine Aufenthaltsgenehmigung, aber keinen Führerschein. 10 Euro kostet die Fahrt bei ihm von Rignano nach Foggia. Sidibé fährt die Männer, die für die Feldarbeit nicht akzeptiert wurden. Sie wollen nach Foggia, um dort Autofenster zu waschen oder in den Straßen zu betteln.

Zu viele Tote

Diesen Sommer haben die Zeitungen mehr als sonst über die Verhältnisse in Rignano berichtet. Zu viele Tote. Im südapulischen Nardò fand Anfang August eine Mahnwache für Mohamed Abdullah statt. 47 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Er ist am 20. Juli in der Mittagshitze auf dem Feld zwischen den Tomatenpflanzen kollabiert – Herzinfarkt. Der Sudanese war erst am Tag zuvor aus Sizilien eingetroffen. Einer von vielen ohne Papiere, ohne Vertrag. Kerzen formen seinen Namen vor der Kirche San Trifono auf der Piazza Salandra. Rund hundert Teilnehmer sind erschienen, darunter Mitarbeiter der Caritas, der Gewerkschaft FLAI-CGIL und der Anti-Mafia-Organisation Libera, die sich seit Jahren gegen diese Form der modernen Sklaverei engagieren.

Der Autor ist italienischer Journalist mit togolesischen Wurzeln. Er hat diesen Sommer einen Monat in Rignano verbracht. Für die Feldarbeit wurde er als zu schwächlich abgelehnt.

Sie kämpfen auf ziemlich verlorenem Posten gegen ein rücksichtsloses und weit verzweigtes System illegaler Beschäftigung. Es basiert auf einer nicht genau zu ermittelnden Zahl von Landwirten; Profitdenken bei Gärtnereien und landwirtschaftlichen Betrieben, bei Vermarktungsgemeinschaften und Verbänden; und es beruht auf dem enormen Druck, dem diese wiederum durch die miteinander konkurrierenden internationalen Konzerne ausgesetzt sind, die Transport, Weiterverarbeitung und Vertrieb regeln. Eine Pyramide, in die auf verschiedenen Ebenen, mehr oder weniger organisiert, mafiöse Gruppen eindringen. „Wer mit dem Leben der Menschen spekuliert, ist ein Mafioso“, sagt ein Teilnehmer der Mahnwache in Nardò. „Die Mafia benutzt die Männer und Frauen, als wären sie Lasttiere. Sie setzt sich ungeniert über alle Gesetze hinweg.“

Die Tomatenernte ist vorbei, die – kleinere – Weinlese in Foggia hat begonnen. Ein Teil der Arbeiter wird über den Winter nach Norditalien gehen. Wer es sich leisten kann, reist zu seiner Familie nach Afrika.

Mamadou Sare, 37, aus Burkina Faso wird nicht dabei sein. Er hat am 22. September versucht, auf einer Plantage mit zwei Kumpeln Melonen zu klauen. Der wütende Besitzer feuerte mehrere Gewehrschüsse auf die Gruppe ab. Zwei Kugeln trafen Sare tödlich.

Aus dem Englischen von Sabine Seifert

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