Friedensnobelpreis für Tunesien: Viererbande für die Demokratie

Das Dialog-Quartett hat es geschafft, das Geburtsland des Arabischen Frühlings vor dem Kollaps zu bewahren. Das war kein leichtes Unterfangen.

DemonstrantInnen und ein Soldat geben sich auf einer Demonstration die Hand.

DemonstrantInnen und ein Soldat geben sich bei den Aufständen gegen den früheren Präsidenten Ben Ali 2011 in Tunis die Hand. Foto: ap

MADRID taz | Ein Land auf dem Weg von einer gestürzten Diktatur in eine Demokratie zu begleiten – kein leichtes Unterfangen. Doch genau diesen Weg bestritten die Gewerkschaftszentrale Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT), den Arbeitgeberverband Utica, die Anwaltskammer und die Liga für Menschenrechte (LTDH) in Tunesien ab 2013 gemeinsam.

Dafür erhält das Quartett den diesjährige Friedensnobelpreis. Denn sie haben den nationalen Dialog auf dem Weg zur Demokratie vorangetrieben. „Der entscheidende Faktor, dafür dass die Revolution in Tunesien ihren Höhepunkt in friedlichen, demokratischen Wahlen im vergangenen Herbst fand, waren die Anstrengungen des Quartetts“, erklärt das Komitee in Oslo, warum die Auszeichnung in das Geburtsland des Arabischen Frühlings geht.

Der Bund der vier „entstand im Sommer 2013, als der Demokratisierungsprozess in Folge politischer Morde und breiter sozialer Unruhen zusammenzubrechen drohte“, heißt es in der Begründung für die Vergabe des mit 850.000 Euro dotierten Friedensnobelpreises.

Die vier zivilgesellschaftlichen Organisationen brachten 2013 Regierung und Opposition an einen Tisch und drängten erfolgreich auf einen Fahrplan, um den Übergang von der am 14. Januar 2011 gestürzten Diktatur Ben Alis hin zu einer demokratischen Regierung abzuschließen.

Tödliche Anschläge

Das war nicht leicht. Die im Herbst 2011 gewählte Nationalversammlung sollte eigentlich in einem Jahr ein neue Verfassung schreiben. Doch die Arbeit lag nach knapp zwei Jahren völlig danieder. Die säkulare Opposition und die regierende islamistische Ennahda stritten sich, ohne von der Stelle zu kommen. Zu unterschiedlich waren die Auffassungen von Grundrechten und Verhältnis zur Religion.

Zwei tödliche Anschläge auf linke Oppositionspolitiker im Februar und Juli 2013 brachten Tunesien schließlich an den Rand des Abgrundes. Hunderttausende gingen gegen die Ennahda-Regierung auf die Straße. Die Gewerkschaft UGTT rief zum Generalstreik für den Tag der Beerdigungen. Das Innenministerium würde zu wenig gegen radikale, gewalttätige Salafisten unternehmen, lautete der Vorwurf. Die Proteste drohten den Übergang zur Demokratie vollständig zu blockieren. Tunesien geriet in eine tiefe Krise.

Vier Personen vor vielen Mikrofonen von Nachrichtensendern.

Die Preisträger: Arbeitgeberpräsidentin Wided Bouchamaoui, der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes Houcine Abassi, der Präsident der Menschenrechtsliga Abdessattar ben Moussa und der Präsident der Anwaltskammer Mohammed Fadhel Mahoud 2013 in Tunis. Foto: reuters

Den vier einflussreichen Organisationen, die sich zum Quartett für den nationalen Dialog zusammenfanden, gelang es nach monatelangem Bemühungen schließlich, „den Weg zu einem friedlichen Dialog zu pflastern und Konsenslösungen zu finden“, so das Komitee in Oslo. Die Regierung trat geschlossen ab und wurde durch ein unabhängiges Technokratenkabinett ersetzt. Die Nationalversammlung nahm ihre Arbeit wieder auf und verpflichtete sich, bis Januar 2014 die Verfassung auszuarbeiten. Eine unabhängige Wahlkommission bereitete anschließend Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen für Oktober und Herbst 2014 vor.

„Mehr als alles andere ist die Auszeichnung als Ermutigung für das tunesische Volk gedacht, das trotz großer Herausforderungen das Fundament für nationale Verbrüderung gelegt hat“, erklärte die Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Kaci Kullmann Five, am Freitag.

In Tunesien selbst hatte kaum jemand mit dem Preis gerechnet. Auch hier machten Spekulationen über eine Auszeichnung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel die Runde. UGTT-Generalsekretär Houcine Abassi zeigte sich deshalb in einer ersten Reaktion „überwältigt“. „Es ist ein Preis, der die mehr als zweijährige Anstrengungen des Quartetts krönt, zu einer Zeit, als das Land an allen Fronten in Gefahr war“, erklärte er. Dass die Arbeit des Quartetts letztendlich erfolgreich war, geht nicht zuletzt auf Abassis diplomatisches Geschick zurück.

Großer Einfluss der Gewerkschaften

In kaum einem Land haben die Gewerkschaften so viel gesellschaftlichen Einfluss wie die 1946 unter französischer Kolonialherrschaft gegründeten UGTT in Tunesien. Sie war ein wichtiger Bestandteil der Unabhängigkeitsbewegung. Doch auch nach dem Abzug der Franzosen 1956 kam es mit dem neuen Regime immer wieder zu Machtproben.

Ob 1978, als die UGTT mit einem Generalstreik ihre Unabhängigkeit von Staat und Partei verteidigte, bei den Brotpreisprotesten in den 1980er Jahren, bei den Streiks und Demonstrationen in der Bergbauregion um Gafsa im Jahr 2008 oder schließlich bei den Demonstrationen, die Anfang 2011 zum Sturz Ben Alis führten, die UGTT stand und steht im Mittelpunkt der tunesischen Gesellschaft, war und ist ein Bezugspunkt für Oppositionelle und fortschrittlich gesinnte Menschen im Lande.

Die islamistische Regierung wusste bei den Gesprächen mit dem Quartett sehr wohl um die Kraft der UGTT. Hätte sie eine Einigung verweigert, wäre dies unweigerlich auf eine Kraftprobe hinausgelaufen. Und die wollte und konnte sich im Tunesien des Jahres 2013 niemand leisten.

„Den Kurs, den die Ereignisse in Tunesien nach dem Fall des autoritären Ben-Ali-Regimes im Januar 2011 genommen haben, ist einzigartig und beachtenswert. Es zeigt erstmals, dass Islamisten und säkulare politische Bewegungen zusammenarbeiten können, um Ergebnisse im Interesse des Landes zu erzielen“, lobt das Osloer Komitee diesen steinigen, aber letztendlich erfolgreichen Weg.

Fortschrittlichste Verfassung in der arabischen Welt

Tunesien hat heute eine stabile Regierung und die wohl fortschrittlichste Verfassung der arabischen Welt. Das islamische Recht wird in ihr nicht festgeschrieben. Die Frauenrechte, für die das Land seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich Vorbildcharakter in der arabischen Welt hat, wurden erneut festgehalten und ausgebaut. Der Staat wacht zwar über die Religion, garantiert aber gleichzeitig die Gewissensfreiheit aller Bürger. Das neue Tunesien hat eine unabhängige Justiz, einen starken, gewählten Präsidenten und gleichzeitig einen eigenständigen Premierminister, der sich auf das Parlament stützt. Keiner der beiden hat die ganze Macht in den Händen.

„Das norwegische Nobelpreiskomitee hofft, dass der diesjährige Preis dazu beiträgt, die Demokratie in Tunesien zu schützen, und diese ein Vorbild für all diejenigen ist, die Frieden und Demokratie für den Nahen Osten, Nordafrika und dem Rest der Welt suchen“, heißt es am Ende des Kommuniqués.

Das kleine nordafrikanische Land ist längst nicht vor allen Gefahren gefeit. Zwei Terroranschläge – auf ein Museum in der Hauptstadt Tunis und auf einen Hotelkomplex am Mittelmeer, bei denen in diesem Jahr 62 Menschen ums Leben kamen – zeugen von den Gefahren, denen die junge Demokratie ausgesetzt ist. Deshalb will „der Preis den Menschen in Tunesien Mut machen“.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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