SCHELMENROMAN Matthias Nawrat erzählt 60 Jahre polnischer Geschichte als Anekdotensammlung
: Der tatsächliche Schrecken bleibt verborgen

Mit einer Reise nach Opole, zur Beerdigung des Großvaters, beginnt der Roman Foto: Marek Maruszak/transit

von Christoph Schröder

Die Kinderperspektive erlaubt im Roman vor allem eines: grenzenlose Naivität, nicht zu verwechseln mit Dummheit. Der unschuldige Blick auf das Geschehen kann etwas ungemein Entlarvendes haben und fügt im besten Fall dem vermeintlich bereits Bekannten eine frische Komponente, eine weitere Dimension hinzu. So war es in „Unternehmer“, Matthias Naw­rats im vergangenen Jahr erschienenem Roman, in dem er aus der Perspektive der 13-jährigen Lipa eine Familie als nach streng kapitalistischen Regeln mitsamt organisiertem Kleinunternehmen vorführte, mitsamt all deren Grausamkeiten. Das funktionierte glänzend, weil Nawrat einen Tonfall fernab aller Klischees gefunden hatte, eine Mischung aus Bürokratendeutsch und Neologismen.

Nawrats neuer Roman ist ein deutlich ambitioniertes Projekt; das lässt sich sowohl am Umfang erkennen, hauptsächlich aber am Stoff, den Nawrat bearbeitet: Der 1979 im polnischen Opole geborene und im Alter von zehn Jahren in die Bundesrepublik umgesiedelte Nawrat erzählt 60 Jahre polnischer Geschichte als Schelmenroman. Und auch wenn die Sprache sich geringfügig gewandelt hat, hält Nawrat am Prinzip der kindlichen Perspektive fest. Das geht allerdings auf den ersten 70 bis 80 Seiten schief, und zwar krachend, denn die biografische Erzählung vom Leben des Opas Jurek setzt mehr oder weniger an einem Ort ein, an dem der Effekt eines naiven Sprechens abprallt, abprallen muss: Auschwitz.

Doch der Reihe nach. Der Roman setzt ein mit Opa Jureks Tod. Der Ich-Erzähler, erneut etwa 12 bis 13 Jahre alt, reist mit seiner Familie aus Deutschland nach Opole zur Beerdigung. Zu diesem Anlass erinnert man sich an die Geschichten, die Opa Jurek seinen Enkeln erzählt hat. Wir haben es also gleich mit einer doppelten Wahrheitserschütterung zu tun: Der Großvater hat die Anekdoten seines Lebens so erzählt, dass sie entweder für ihn erträglich oder für den Enkel verständlich waren. Der Enkel wiederum macht daraus seinen ganz eigenen Reigen aus Geschichten.

Hinter den Abenteuern und Münchhausiaden, die hier zum Besten gegeben werden, verbirgt sich im Kern das Porträt eines ­Opfers, das sich weigert, sich als Opfer zu fühlen und zu ­stilisieren

Jurek wächst in Warschau auf und arbeitet in einer Zündkerzenfabrik. Einer der Arbeiter verteilt Flugblätter gegen die deutschen Besatzer. Jeder weiß, wer der Urheber ist, niemand verrät ihn, also nehmen die Deutschen gleich die gesamte Belegschaft mit und verfrachtet sie nach Auschwitz, schätzungsweise im Spätsommer 1940.

Nawrat setzt hier auf den aufklärerischen Nichtschockeffekt: Der tatsächliche Schrecken liegt unter der Folie des Erzählten und Berichteten. Es ist die gleiche Technik, der sich auch Imre Kertész in seinem „Roman eines Schicksallosen“ bedient, doch Nawrat ist zwar, wie sich im Verlauf des Romans herausstellen wird, ein sehr guter Autor, aber ihm fehlt die Leiderfahrung und ihm fehlen in diesem speziellen Fall auch die sprachlichen Mittel.

Es entstehen Sätze wie diese: „Am Ende seiner Zeit in Oświęcim hat unser Opa Jurek nur 38 Kilo gewogen, und er erklärte uns in diesem Zusammenhang, dass es für ihn zwar insgesamt keine schöne Zeit gewesen sei, aber vor allem sei es auch für die Menschheit keine schöne Zeit gewesen.“ Das ist nicht nur platt, sondern auch weit unter dem Niveau der Figur. Wie gesagt: Es geht hier nur um 70 bis 80 misslungene Seiten, doch die fallen gerade am Anfang stark ins Gewicht.

Mit dem Beginn der Nachkriegszeit und der Etablierung der kommunistischen Herrschaft beginnen die satirischen Instrumente, über die Nawrat verfügt, ihre Wirkung zu tun. Die Kollektivierung der Betriebe, die Verstaatlichung der Produktion, die kleinen und großen Gängeleien und Sauereien des Behördenapparats, die Absurditäten des sozialistischen Alltags und die stets gleichzeitig darin wohnende Tragik und Komik – Naw­rat fängt sie ein, weil er seine Balance schnell wiederfindet.

In Opole wird Jurek zum Lebensmittelhändler (in dessen Geschäft die Regale stets so gut wie leer sind), dann zum Direktor eines Kaufhauses. Die Geschichte der Familie durch die Jahrzehnte hinweg , das Kennenlernen der Eltern des Erzählers, die wechselnden Regierungen und Stimmungslagen im Land, die harte Konfrontationslage während der Jaruzelski-Epoche – all das wird präsentiert in Form von ungemein unterhaltsamen Anekdoten, die erkenntnisstiftenden Charakter haben, wobei die Grenzlinien zwischen Humor und einer gewissen Putzigkeit hier nicht ganz so klar gezogen sind wie im Vorgängerroman „Unternehmer“. Da war allerdings die Fallhöhe bei weitem nicht so spektakulär.

Was durch die Jahrzehnte unverändert bleibt, ist ein durchgängiges Klima der Denunziation und Drangsalierung. Hinter den Abenteuern und Münchhausiaden, die hier zum Besten gegeben werden, verbirgt sich im Kern das Porträt eines Opfers, das sich weigert, sich als Opfer zu fühlen und zu stilisieren. Nawrat entwirft am Ende des Romans die Theo­rie der „Umgekehrten Humoristik“, deren Grundsatz darin besteht, „dass die Größe des Umgekehrten Humoristen stets unentdeckt bleiben wird. Dass sich sein Triumph nur ihm selbst offenbart. Dass überhaupt nur er das Witzige an seinem eigenen Witz begreift.“ Opa Jurek hat in und durch den Roman historische Gerechtigkeit erfahren: Seine Größe kann man nun auch lesend begreifen.

Matthias Nawrat: „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“. Rowohlt, Reinbek 2015, 412 Seiten, 22,95 Euro