Meinungsvielfalt unter Kretschmann: Böser Verdacht bei den Grünen

Zensur? Chinesische Verhältnisse? Nach dem Jubelparteitag für Kretschmann wabern Gerüchte durch die Partei. Eine knallharte Recherche.

Winfried Kretschmann beim Grünen-Parteitag

Der badische Xi Jinping, wie Winfried Kretschmann auch genannt wird. Foto: dpa

BERLIN taz | Es war ein Jubelparteitag, wie ein Landesvorstand ihn sich schöner nicht wünschen könnte: Als sich die baden-württembergischen Grünen am Samstag trafen, um ihren Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu feiern, lief alles nach Plan. Ein Traumergebnis von 96,8 Prozent für den Spitzenmann, Standing Ovations, sozialistische Verhältnisse in Pforzheim.

Doch nun, ein paar Tage später, wabert ein böser Verdacht durch die Partei. Hat der Landesvorstand auf dem Parteitag missliebige Meinungen unterdrückt? Aus Angst, Kretschmann könne beschädigt werden? Gibt es Zensur, ausgerechnet bei den angeblich pluralistisch aufgestellten Grünen?

Von „Verhältnissen wie in China“ munkeln manche im linken Parteiflügel. Und Jörg Rupp, linker Grüner und Ex-Parteiratsmitglied, fragt auf Facebook empört: „Wie tief kann man sinken?“

Die Gerüchte gehen auf eine Szene zurück, die sich am Samstagmittag in dem Pforzheimer CongressCentrum abspielte. Der Stuttgarter Delegierte Jochen Detscher läuft mit einem Stapel Papier durch die Reihen. Er hat einen Aufruf der Europaabgeordneten Barbara Lochbihler im Arm, 150 Kopien von drei Seiten, säuberlich zusammengetackert.

Der Vorstand greift ein

Den „Zwischenruf zu ‚sicheren Herkunftsstaaten‘“ der Menschenrechtsexpertin Lochbihler haben auch der Bundestagsabgeordnete Volker Beck und Romeo Franz unterschrieben, Geschäftsführer der Hildegard Lagrenne Stiftung, die sich für Rechte von Sinti und Roma einsetzt. Darin geißeln die drei das Konzept, immer mehr sichere Herkunftsstaaten auszuweisen, als „Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl“.

Detschers Austeil-Aktion geht gegen Kretschmann, natürlich. Schließĺlich war es der viel bejubelte Obergrüne, der federführend einen Asylkompromiss ausgehandelt hat, welcher das Asylrecht verschärft, mehr sichere Herkunftsstaaten vorsieht und am Freitag im Bundesrat beschlossen wird. Detscher will mit dem Lochbihler-Papier seinen kritischen Parteitagsantrag zu dem Thema bewerben. Doch er hat die Rechnung ohne seinen Landesvorstand gemacht.

Das Papier in der Halle zu verteilen, sei nicht möglich, teilen ihm Landesschatzmeister Wolfgang Kaiser und Landesgeschäftsführer Matthias Gauger mit. Auch Detschers Versuch, wenigstens ein paar Zwischenrufe auf einem Infostand im Foyer zu platzieren, scheitert. Leider sei auch das verboten, so die offizielle Ansage. Währenddessen sammeln Mitarbeiter der Landesgeschäftsstelle die schon ausliegenden corpora delicti wieder ein.

Detscher klingt am Telefon nicht empört, aber hörbar irritiert. „Das Thema ist aktuell und sehr wichtig für die Partei“, sagt er. „Ich hätte mir gewünscht, dass der Vorstand seinen Spielraum nutzt und das Material erlaubt.“

Anruf in Stuttgart

Was ist da los? Schon einmal konnte man auf den Gedanken kommen, der realo-dominierte Landesverband, der vor einer wichtigen Wahl steht, habe ein seltsames Verhältnis zur Meinungsvielfalt. Als der Parteilinke Rupp im Februar mit einem sexistischen Tweet über eine FDP-Frau für Furore gesorgt hatte, legten ihm mehrere Vorstandskolleginnen nahe, sich bis zur Landtagswahl im März 2016 auf Twitter, Facebook oder in seinem Block nicht mehr zu äußern.

Auf Bundesparteitagen der Grünen dürfen Organisationen jedweder Couleur traditionell ihr Material verteilen – ob es nun TTIP-Gegner sind, Umweltverbände oder der Lesben- und Schwulenverband. Zwar muss vorher die organisatorische Geschäftsführerin um Erlaubnis gefragt werden. Sie genehmigt die Verteilung aber in der Regel, so dass auf den Tischen abends ein buntes Durcheinander herrscht.

Höchste Zeit also für eine knallharten Recherche bei den Grünen in Stuttgart. Unterdrücken Sie kritische Stimmen, Herr Gauger? Der Landesgeschäftsführer widerspricht engagiert. Bei den Baden-Württemberg-Grünen sei es ein „geübtes Verfahren und Usus“, dass im Saal nur offizielles Material auf den Tischen liegen dürfe – also etwa Anträge oder Bewerbungsschreiben für Kandidaturen.

Die Entscheidung gegen Detschers Kopien sei eine „rein formale“ gewesen. So habe man am Samstag zum Beispiel auch Infomaterial von der Böll-Stiftung oder vom Bund Deutscher Forstleute kassiert. „Der Vorwurf, wir unterdrückten Kritik, ist absurd. Das haben wir nicht nötig“, sagt Gauger. Auch der Infotisch sei eben nur Materialien aus Partei und Fraktion vorbehalten gewesen. „Mit den Inhalten des Lochbihler-Papiers hatte das Ganze nichts zu tun.“

Merke: Ein Verbot muss keine böse Absicht sein. Stuttgart ist nicht China. Und Zensur ist manchmal einfach nur schwäbische Sauberkeit.

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