Palliativmediziner zur Sterbehilfe: „Tötung brauchen wir nicht“

Der Arzt Thomas Sitte hat viele Menschen in den Tod begleitet. Er ist gegen organisierten Suizid. Es stirbt sich, sagt er, besser ohne Termin.

Roger Kusch führt nach seinem Berufswechsel vom Hamburger Justizsenator zum Sterbehelfer eine von ihm konstruierte Selbsttötungsmaschine vor. Foto: Kay Nietfeld/dpa

taz: Herr Sitte, wann haben Sie zuletzt jemanden davon abgebracht, sich das Leben zu nehmen?

Thomas Sitte: Vor zwei Wochen.

Was war das für ein Fall?

Eine Frau kontaktierte mich wegen ihrer 70-jährigen Mutter. Die alte Dame hat Krebs im Gesichtsbereich, der sie aus ihrer Sicht entstellt. Die Tochter sagt, dass sieht man ihr nicht an, aber das ist ja ein subjektives Gefühl. Auf jeden Fall hatte sie Angst, unter Menschen zu gehen und große Angst, dass es schlimmer wird. Sie hatte schon einen Mitgliedsbeitrag bei Dignitas in der Schweiz bezahlt.

Was haben Sie ihr gesagt?

Dass jeder Hausarzt ganz konkret beraten kann, welche Medikamente es gibt, mit denen man sich das Leben nehmen könnte. Und auch entsprechende Medikamente verschreiben kann. Sterbehilfe Deutschland macht das, aber auch viele andere. Ich habe ihnen aber auch gesagt, dass sie keine Angst vor dem Leiden beim Sterben haben müssen, weil Palliativmediziner das sehr gut lindern können. Das haben sie nicht gewusst.

Und nun?

Sie sind bei Dignitas ausgetreten und wollen abwarten. Aber ich hätte auch sagen können, dass ich den Wunsch nach dem Tod verstehe und alles. Dann hätten sie sich wohl anders entschieden. Man kann Menschen so leicht in den Tod, ich will nicht sagen treiben, aber doch leiten.

57, der Facharzt für Anästhesie ist Vorstandsvorsitzender und Mitbegründer der Deutschen Palliativstiftung, seit 2014 arbeitet er im Hamburger Hospiz „Sternenbrücke“.

Sind Sie deswegen gegen Liberalisierung der Sterbehilfe?

Wir brauchen das organisierte Sterben nicht, es gibt andere Möglichkeiten. Das Thema kam hier ja so richtig erst mit Roger Kusch auf, der es gewerbsmäßig getan hat. Das war wenigstens ehrlich, aber in Deutschland nicht konsensfähig. 2014 wurden dann mehrere Gesetzentwürfe abgegeben, von denen einer nicht nur die gewerbsmäßige, sondern auch die geschäftsmäßige, die auf Wiederholung angelegte Sterbehilfe, verbietet. Egal ob gegen Geld oder nicht.

Stellt dieser Gesetzentwurf, an dem Sie mitgearbeitet haben und der vom Bundestag angenommen wurde, Ärzte nicht vor ein Problem?

In der Debatte klingt es so, als leisteten Ärzte dauernd Sterbehilfe. Dabei gibt es nur sehr wenig Ärzte, die in diese Verlegenheit kommen, und noch viel weniger, die wiederholt mit dieser Frage konfrontiert sind. Es gibt wenig Bedarf und wir sollten auch keinen wecken.

Was treibt Sie, sich in diesem Bereich zu engagieren?

Mein Großvater hat sich erschossen, mein Bruder hat sich erschossen. Das prägt sicherlich, auch wenn man es irgendwann verdrängt. Und als ich 27 Jahre alt war, bin ich von einer Patientin ganz ernsthaft gebeten worden, sie zu töten, und das wäre in der Situation auch völlig verständlich gewesen. Ich habe das damals abgelehnt.

Wieso?

Feigheit? Ich war viel zu jung und zu unerfahren, um zu wissen, wie man es hätte machen müssen. Und hätte ich Ja gesagt, wäre meine gerade begonnene Karriere als Arzt wohl zu Ende gewesen. Das wollte ich nicht.

Was wäre, wenn Sie heute noch mal entscheiden dürften?

Ich hätte ihr Sterben zugelassen. Ohne Beatmung, ohne Ernährung und ohne Flüssigkeit ihr natürliches Sterben einfach zugelassen. Und wenn sie vorher hätte sterben wollen, hätte ich ihr auch Wege gezeigt, dies zu tun.

Wie halten Sie das heute bei Ihrer Arbeit im Kinderhospiz Sternenbrücke in Hamburg?

Kinder sind eine ganz andere Klientel, da gibt es den Bedarf für Suizid-Assistenz nicht. Ich wurde allerdings von den Eltern nach Mitleidstötung gefragt.

Sie meinen, die Eltern bitten Sie, ihre Kinder zu töten?

Die Eltern wollen nicht, dass ihr Kind stirbt. Sie wollen, dass ihr Kind nicht leiden muss. Und wir können das Leid lindern oder das bewusste Wahrnehmen des Leids ganz ausschalten. Ob die Seele etwas wahrnimmt, wenn der Geist tief schläft, ist eine Frage der spirituellen Haltung. Aber medizinisch betrachtet kann ich sagen: Man kann das körperliche Leid so weit reduzieren, dass der Patient in den Tod hineinschläft.

Wann ist Sterbehilfe sinnvoll?

Es gibt keinen Bedarf für die organisierte Suizid-Beihilfe. Höchstens bei Menschen, die sagen, ich habe mein Leben lang Steuern bezahlt und in die Krankenkasse eingezahlt und nun sollen die bitte dafür sorgen, dass ich morgen um 14 Uhr sterbe. So wird es ja gemacht. Wenn ich den Todeszeitpunkt nicht festlege, lindernd oder gar nicht behandele und dem Sterben seinen Lauf lasse, stirbt man auch, nur eben nicht morgen um 14 Uhr.

Kurz bevor der Bundestag über den neuen Gesetzentwurf abgestimmt hat, verzeichneten Dignitas und Exit mehr Anmeldungen. Belegt das nicht den Bedarf nach Tötung auf Verlangen?

Die Zahl der Patienten, die zu Dignitas oder Exit gehen, verdoppelt sich alle fünf bis sechs Jahre. Und das bei einer etwa konstanten Suizid-Rate als Hintergrundrauschen. Das zeigt doch, dass die Suizid-Begleitung keinen Suizid verhindert, sondern einen Bedarf erst schafft. Das finde ich bedenklich. Die meisten wissen schlicht nicht, dass kein Mensch gegen seinen Willen weiterleben muss.

In der Praxis sieht das aber häufig anders aus.

Wir erhalten so viele Menschen gegen ihren Willen am Leben, oder ohne ihren Willen je erfragt zu haben. Das führt dazu, dass die Menschen glauben, wir brauchen jetzt Tötung. Das ist doch absurd.

Die Debatte sollte also eher darüber geführt werden, wann die Medizin aufhört?

Nein, diese Debatte ist längst abgehakt. Was fehlt ist Aufklärung. Wir brauchen eine ganz platte Werbekampagne. Nehmen wir das Beispiel freie Liebe. Jeder weiß heute, wenn man Sex mit wechselnden Partnern hat, sollte man Kondome benutzen. Gib Aids keine Chance. Mach’s mit. Das ist alles. So etwas brauchen wir. Deutschland sucht die Patientenverfügung.

Wieso gibt es das nicht?

Ich habe mit mehreren Krankenkassen darüber gesprochen und die haben Bedenken, man könnte ihnen nachsagen, sie wollten nur ihre hohen Risiken loswerden. Der gesellschaftliche Auftrag müsste also von der Bundesregierung kommen. Am Ende müsste jeder wie selbstverständlich eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht haben. Nur dann habe ich die Gewissheit, dass ich so versorgt werde, wie ich das gern möchte. Bisher kümmern sich aber noch nicht mal alle Ärzte darum. Sie sind auch Menschen und wollen mit dem Tod nichts zu tun haben.

Letztlich geht es also immer um die Angst vor dem Sterben?

Die war vor 30 Jahren noch begründeter. Damals haben wir die Patienten im Krankenhaus zum Sterben ins Bad geschoben. Das war völlig normal. Da war halt niemand, es war gekachelt und leicht sauber zu machen. So stelle ich mir meinen Tod und mein Sterben sicher nicht vor. Aber da hat sich viel getan. Nun müssen wir aufpassen, dass wir den Tod nicht so medikalisieren wie etwa die Zeugung, ich denke da etwa an social freezing. Man kann auch ohne Arzt sterben.

Warum ist das so wichtig?

Weil die Qualität des Todes unter der sogenannten Sterbehilfe eine andere ist. Da geht die Kultur des Hinnehmens von Dingen, die ich nicht ändern kann, verloren. Es kann ja jeder sterben wie und wann er will, aber ich wehre mich dagegen, dass dieser Tod nach Terminkalender als normal dargestellt wird. Das ist er nicht.

Wie geht es nun weiter?

Was wir brauchen ist so etwas wie die Schwangeren-Konflikt-Beratung von Pro Familia oder Donum Vitae. Nur eben für Suizid-Willige. Bei einer solchen Beratung wären die allermeisten Patienten Depressivkranke, die mit den Palliativpatienten, um die es bei den öffentlichen Debatten über Sterbehilfe immer geht, gar nichts zu tun haben. Aber hier könnte man auch die beraten, die aus Angst vor Leiden frühzeitig sterben wollen. Denn wer keine Angst hat, verlangt in der Regel keine Sterbehilfe.

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